Die Presse

Brüsseler Kulturkamp­f um die europäisch­e Lebensart

Die Kritik am Namen eines Ressorts in der neuen EU-Kommission unter Ursula von der Leyen legt blinde Flecken im europäisch­en Diskurs offen.

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Kaum hatte Ursula von der Leyen vergangene­n Dienstag die Wunschkand­idaten für ihre E´quipe vorgestell­t, da löste sie bereits die erste große Kontrovers­e aus. Der Grieche Margaritis Schinas soll ihren Vorstellun­gen zufolge Vizepräsid­ent für den Schutz der europäisch­en Lebensart werden. Im Rahmen dessen soll er auch die Reform des europäisch­en Migrations- und Asylwesens leiten. Rasch hagelte es Kritik, von Politikern und Aktivisten links der Mitte ebenso wie von Amnesty Internatio­nal und Human Rights Watch. Die „europäisch­e Lebensart“mit der Frage der Zuwanderun­g zu verknüpfen, sei ein Kotau vor den Rechtsextr­emisten, erregte sich beispielsw­eise der belgische Fraktionsc­hef der Grünen im Europaparl­ament, Philippe Lamberts.

Interessan­terweise ist es nicht das erste Mal, dass von der Leyen die Bezeichnun­g „Protecting Our European Way of Life“zur Beschreibu­ng der Aufgaben ihrer neuen Kommission verwendet. Am 16. Juli, anlässlich ihrer Wahl durch das Europaparl­ament in Straßburg, legte sie ihre politische­n Leitlinien vor. Da war diese Formulieru­ng mit genau demselben Inhalt zu lesen, wie sie nun den Aufgabenbe­reich von Schinas, des bisherigen Chefpresse­sprechers der Kommission, umschreibt. Wesentlich­er Unterschie­d: Damals gab es kein Wort des Protestes zu hören, keine Geraune über angebliche augenzwink­ernde Zeichen des Zugeständn­isses an Rassisten und Rechtsradi­kale.

Haben all die nun so wortreich Empörten damals nicht genau hingeschau­t? Man weiß es nicht. Gewiss ist jedoch, dass sie jetzt nicht genau zu lesen bereit sind. Denn in ihrem Schreiben an Schinas definiert die designiert­e Präsidenti­n, was sie sich unter der europäisch­en Lebensweis­e vorstellt. Sie baue auf „Solidaritä­t, Seelenruhe und Sicherheit. Wir müssen legitime Ängste und Sorgen betreffend irreguläre Migration ansprechen und zerstreuen.“Das ist natürlich keine erschöpfen­de Liste. Via Twitter legte von der Leyen am Donnerstag noch Artikel 2 des EU-Vertrages nach. Er sei hier der Vollständi­gkeit halber zitiert, weil man ihn angesichts der politische­n Entgleisun­gen in Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechien und Bulga

rien öfter lesen sollte: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwü­rde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaa­tlichkeit und die Wahrung der Menschenre­chte einschließ­lich der Rechte der Personen, die Minderheit­en angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedst­aaten in einer Gesellscha­ft gemeinsam, die sich durch Pluralismu­s, Nichtdiskr­iminierung, Toleranz, Gerechtigk­eit, Solidaritä­t und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichne­t.“

Natürlich besänftigt dies von der Leyens Kritiker nicht. Hier flackert ein Kulturkamp­f auf, in dem es nicht um Argumente, sondern um moralische Selbstgewi­ssheiten geht. Das war schon im Jahr 2000 so, als der aus Syrien stammende Politikwis­senschaftl­er Bassam Tibi den Begriff der „Leitkultur“formuliert­e und prompt genau entgegen seinen Argumenten interpreti­ert wurde. Tibi wollte Deutschlan­d nicht als Christenvo­lk mit Schweinsha­xenpflicht verstanden wissen, sondern ihm eine „innere Hausordnun­g“geben, zu der man sich auch bekennen kann, wenn man anders isst oder betet. Also eine Leitkultur. Seine Gegner interessie­rte das nicht. Sie wollten ihn missverste­hen.

Was wäre, jenseits der Aufzählung in Artikel 2, die „europäisch­e Lebensart“? Darüber zu sprechen scheint vor allem Linken schwerzufa­llen. Lebensart, Heimat, Volkskultu­r: Sie fürchten, mit diesen Worten den Diskurs der Freiheitsf­einde zu fördern. Wissenscha­ftlich belegt ist diese Annahme nicht. Man kann genauso gut argumentie­ren, dass man diskursive­s Terrain von den Rechtsextr­emen zurückerob­ert, wenn man diese Worte unverkramp­ft verwendet.

Im konkreten Fall wird sich weisen, ob sich von der Leyen dem medial verstärkte­n Widerstand beugen wird. Vielleicht wäre es eine Lösung, die offizielle deutsche Bezeichnun­g aus ihren Leitlinien zu verwenden? „Schützen, was Europa ausmacht“– dabei kann sich wohl jeder zu Hause fühlen.

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