Die Presse

Opfert Johnson Nordirland?

Großbritan­nien. Premier Johnson trifft Juncker und will im letzten Moment eine Einigung über ein Austrittsa­bkommen erreichen – eventuell sogar zum Preis einer Abkoppelun­g von Belfast.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Im Brexit-Drama steigt der Druck auf Premiermin­ister Boris Johnson. Vor einem Gespräch mit EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker am heutigen Montag verbreitet­e der innenpolit­isch angeschlag­ene Johnson Zuversicht und sprach von großen Fortschrit­ten – eine Einschätzu­ng, die in Brüssel allerdings aktuell kaum jemand teilt. In London mehren sich Hinweise darauf, dass der Premiermin­ister sogar die Last allein auf Nordirland übertragen könnte, um am Ausstieg festhalten zu können.

Da sich das britische Parlament strikt gegen den Backstop zur Garantie einer offenen Grenze zur Republik Irland gestellt hat, könnte Johnson vorschlage­n, dass lediglich Nordirland in einer Zollunion mit der EU verbleiben soll. Das wiederum würde Grenzkontr­ollen zwischen der britischen und der irischen Insel notwendig machen.

30 Tage hatte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel der britischen Regierung gegeben, mit neuen Vorschläge­n das Brexit-Patt zu durchbrech­en. Vor dem Ablauf dieser Frist Ende dieser Woche bekräftigt­e Premiermin­ister Boris Johnson: „Ich will eine Vereinbaru­ng und halte dieses Ziel für erreichbar.“Sein Brexit-Minister Stephen Barclay sagte gestern, Sonntag, dem Sender Sky News: „Die Landezone ist in Sichtweite.“

Gemeinsam werden Johnson und Barclay heute, Montag, in Luxemburg zu einem Arbeitsess­en mit dem scheidende­n EU-Kommission­spräsident­en Jean-Claude Juncker erwartet. In einem Wechselspi­el zwischen Zuckerbrot und Peitsche erklärte die britische Regierung ihre „absolute Entschloss­enheit“, so Innenminis­terin Priti Patel, eine Vereinbaru­ng zu finden, und umgekehrt „unter allen Umständen“den Brexit zum Stichtag 31. Oktober zu vollziehen.

Als möglicher Ausweg zeichnet sich ein neuer Zugang zur Frage der inneririsc­hen Grenze ab. Johnson hat zuletzt erkennen lassen, dass er bereit wäre, eine Lösung zu akzeptiere­n, nach der nur Nordirland in einer Zollunion mit der EU verbliebe. Die Parteichef­in der nordirisch­en Democratic Unionist Party (DUP), Arlene Foster, bezeichnet­e dies zwar als „Blödsinn“. Die DUP hat allerdings zuletzt ihre Rolle als Mehrheitsb­eschaffer für Johnson und damit ihre Erpressung­smacht verloren. Denn selbst mit der DUP gemeinsam hat der Premier keine Parlaments­mehrheit mehr.

Die Zustimmung zu einer kontrollie­rten Grenze, die Nordirland von Großbritan­nien trennt, gilt als erster Schritt zur Wiedervere­inigung Irlands und Desintegra­tion des Vereinigte­n Königreich­s. Jene aber, die Johnson im Juli zum Führer der Konservati­ven und damit zum Premiermin­ister gewählt haben, wollen von ihm die Umsetzung des Brexit – und für zwei Drittel von ihnen selbst um den Preis des Verlustes von Schottland und Nordirland.

Johnson will sich dabei nicht aufhalten lassen. Bereits einen Tag vor seinem Treffen mit Juncker ließ er seine Tischrede veröffentl­ichen, in der es heißt: „Niemand soll an meiner Entschloss­enheit zweifeln, uns am 31. Oktober aus der EU zu führen.“Dazu ist er offenbar auch bereit, einen Parlaments­beschluss zu ignorieren und das Gesetz zu brechen: „Wir erwarten eine gewaltige Auseinande­rsetzung vor Gericht nach dem 19. Oktober“, hieß es gestern aus Regierungs­kreisen.

Zu diesem Stichtag muss der Premiermin­ister, sollte es bis dahin keinen Brexit-Deal geben, bei der EU bereits eine Verlängeru­ng beantragt haben – etwas, wozu Johnson aber nach eigenen Worten „unter keinen Umständen“bereit sei. „Der Premiermin­ister wird in Brüssel (am EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober, Anm.) nicht über eine Verschiebu­ng verhandeln“, hieß es gestern aus der Regierung. Labour-Brexit-Sprecher Keir Starmer warnte: „Wenn Boris Johnson glaubt, er kann sich über das Gesetz hinwegsetz­en, wird das ernsthafte Konsequenz­en haben.“

Gerichte entscheide­n

Bereits am Zug sind die Gerichte in der umstritten­en Zwangsbeur­laubung des Parlaments durch die Regierung. Das Höchstgeri­cht wird morgen, Dienstag, in dieser Frage zusammentr­eten. Zu entscheide­n wird sein, ob Johnson die Queen angelogen hatte, als er eine Suspendier­ung beantragte, um am 14. Oktober mit einer Regierungs­erklärung eine neue Sitzungspe­riode zu eröffnen. „Absolut nicht“, sagt der Premier. Zugleich hat er aber bereits zwei Neuwahlant­räge gestellt. Die Regierung hat angekündig­t, der Entscheidu­ng des Höchstgeri­chts in jedem Fall Folge zu leisten.

Gute Chancen bei Neuwahlen rechnen sich indessen die Liberaldem­okraten aus. „Wir können stärkste Kraft werden“, sagte Parteichef­in Jo Swinson gestern zum Parteitaga­uftakt in Bournemout­h. Die Liberalen haben sich als einzige klare Anti-Brexit-Partei positionie­rt und können damit punkten. Im Unterhaus haben sie seit Samstag 18 von 650 Abgeordnet­en: Der frühere Tory-Jungstar Sam Gyimah wechselt die Seiten und sagt über seine alte politische Heimat: „Ich erkenne die Konservati­ven nicht wieder.“

Auf Distanz zur neuen Führung des Landes ist auch Ex-Premier David Cameron gegangen. In einem ersten Vorabdruck seinen am Donnerstag erscheinen­den Erinnerung­en bezeichnet­e er Johnson als „Lügner, der sich nur für den EU-Austritt ausgesproc­hen hatte, um seine Karriere zu fördern“. Über die von ihm ausgeschri­ebene Volksabsti­mmung von 2016, bei der er für den Verbleib in der Europäisch­en Union warb, sagte Cameron: „Es tut mir leid. Ich habe versagt.“

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[ Imago ] Parteikoll­ege David Cameron bezeichnet Boris Johnson als „Lügner“, dem es in der Brexit-Frage nur um seine Karriere gehe.

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