Die Weltraumreise einer Waschbrettseele
Film. In James Greys Science-Fiction-Drama „Ad Astra“gibt Brad Pitt einen verschalten Astronauten, der auf der Suche nach seinem verschollenen Vater die Grenzen des Selbst auslotet. Und mit stoischer Miene eine neue Männlichkeit skizziert.
Das Wesentliche. Darauf legt Roy McBride seine Aufmerksamkeit. Der Ingenieur und Astronaut hat es weit gebracht. Er zählt zu den besten seiner Zunft, erzielt Höchstwerte bei jedem Eignungstest, schläft ruhig und albtraumfrei. Wo anderen das Herz flattert, bleibt sein Puls ruhig. Selbst im brandgefährlichen Ausnahmezustand. Kurzum: Roy McBride funktioniert. Und trotzdem ist da eine zehrende Leere, ein existenzielles Unbehagen. Als wäre ihm etwas abhandengekommen. Etwas Wesentliches.
„Ad Astra“: So heißt die jüngste Arbeit des US-Autorenfilmers James Grey. Doch zu den Sternen geht es darin nur pro forma. Statt unendlicher Weiten erkundet Greys faszinierender Science-Fiction-Film die Untiefen einer versehrten Männerseele, sucht nach ihrem Platz in einer ungewissen Gegenwart. Kürzlich feierte er in Venedig Premiere, am Freitag läuft er in Österreich an. Den Körper zu besagter Seele stellt Brad Pitt. Sein Roy ist ein verschalter Profi: rücksichtsvoll, aber zugeknöpft. Schnell liest er die Gefühle anderer, seine bleiben meist im Verborgenen. Ein bisschen erinnert Roys Ausdrucksarmut an Ryan Goslings Neil-Armstrong-Porträt im rezenten Apollo-11-Drama „First Man“. Beide Filme gehen zwecks Nabelschau auf Weltraumtour. Doch „Ad Astra“gewährt via Off-Stimme direkten Einblick in die Psyche seines Protagonisten.
An futuristischen Fantasien ist der Film nicht interessiert. Regisseur Grey, ein Holly
wood-Klassizist im besten Sinne, hat auch schon andere Genres als Vehikel für komplexe Charakterstudien genutzt, ob es nun um Gangster ging („Little Odessa“, „We Own the Night“) oder um Dschungelabenteurer („The Lost City of Z“). Die Zukunftsvision von „Ad Astra“bleibt bewusst im Vagen. Und wirkt dennoch ungemein vertraut.
Was nicht heißen soll, dass es an Schauwerten mangelt. Oder an Action. Gleich zu Beginn wird Roy bei der Arbeit an einer Weltraumantenne von einer rätselhaften Druckwelle aus der Stratosphäre geschleudert. Doch schon hier, im Sturzflug, haftet dem Geschehen etwas Traumartiges an – die Gefahr scheint unwirklich, wie hinter Glas.
Am Boden der Tatsachen wartet die Obrigkeit mit einer Geheimmission: Die Druckwellen kommen vom Neptun. Und haben vielleicht mit Roys Vater zu tun. Der legendäre Wissenschaftler Clifford McBride (Tommy Lee Jones) zog vor Jahrzehnten aus, um im All nach intelligentem Leben zu fahnden. Frau und Sohn ließ er auf der Erde zurück. Seine letzten Videobotschaften flackern leichenblass. Nun soll Roy auf den Mars, um Kontakt zum Totgeglaubten aufzunehmen.
Seine Reise führt bis an die Außengrenzen der Zivilisation und dringt dabei ins Innerste – wobei Roys Gedankenkommentar stets mitläuft. Beim Anblick des Mondflughafens, der aussieht wie ein Shoppingcenter, übt er sich in Gesellschaftskritik: Wozu neue Welten erobern, wenn wir sie den alten nachgestalten? Dann der Angriff von Weltraumpiraten (eine tolle Vakuum-Spannungssequenz): Trauer über den Export von Barbarei. Zusehends wird es persönlicher, allegorischer, rätselhafter. Auf einem gekenterten Schiff wird Roy von grimmigen Primaten attackiert. „Ich verstehe diese Wut“, erzählt er bei der psychologischen Evaluierung. „Es ist die meines Vaters. Es ist meine eigene.“
Immer schwereloser wird Roys Suche. Die Handlung zerfließt in berückenden, blau-rot-gold wabernden Breitwandaufnahmen, von Kameratalent Hoyte van Hoytema (der schon Christopher Nolans „Interstellar“drehte) auf 35-mm-Film gebannt, eingebettet in Max Richters kalt-warme Klangwolken. Kubrick und Tarkowski lassen grüßen. Doch der Anker dieser Odyssee heißt Pitt. Der Wandel vom Sexsymbol zum „seriösen“ Schauspieler ist Pitt schon mit „Tree of Life“(2011) gelungen. Eben brillierte der 55-Jährige in Quentin Tarantinos „Once Upon a Time . . . in Hollywood“als genügsam-souveräner Stuntman. Auch seine „Ad Astra“Figur besticht durch Besonnenheit, gibt sich aber empfindsam. Und strebt im Grunde nach emotionaler Reifung.
Ein löbliches Vorbild. Wobei: Geweint wird nur einmal. Und ohne allzu expressives Mienenspiel. Die Grundfesten bewährter Männlichkeit bleiben intakt. In Interviews schwärmt Pitt vom Stoizismus. „Per aspera ad astra“, sagte Seneca. Der Waschbrettbauch ist out. Unsere Sehnsucht gilt der Waschbrettseele.