Die Presse

Justin Trudeau und die Schatten der Vergangenh­eit

Kanada. Im Wahlkampf verfolgen den Premier Vorwürfe wegen „Blackfacin­g“-Fotos, die ihn verkleidet als Araber und Schwarzen zeigen.

- VON THOMAS VIEREGGE

Die Debatte über Political Correctnes­s ist längst von den Colleges in den USA nach Kanada geschwappt, und nunmehr ist sie mitten in den Wahlkampf hineingepl­atzt. Das Paradoxe daran ist, dass es just eine Galionsfig­ur der liberalen, offenen und toleranten Gesellscha­ft trifft; einen Premier, der mehr Frauen, Vertreter von Minderheit­en – allein vier Sikhs – in seine Regierung berufen hat als jeder Vorgänger, und der 25.000 Syrer in ein Land geholt hat, das sich viel zugutehält auf seine Tradition als Einwandere­rnation.

Nach einer Regierungs­krise um den Rücktritt zweier Ministerin­nen und einem Umfragetie­f wollte Justin Trudeau bei seiner Kampagne um eine Wiederwahl am 21. Oktober durchstart­en. „Wir haben gerade erst angefangen.“Doch jetzt verfolgen den 47-Jährigen mit dem Sonnyboy-Image auf Schritt und Tritt die Schatten der Vergangenh­eit – Fotos aus seiner Zeit als Lehrer an einer High School in Vancouver aus dem Jahr 2001, als er sich bei einer Faschingsp­arty unter dem Motto „Arabische Nächte“als braun geschminkt­er Aladdin verkleidet hatte; Videos von einer Party, die ihn als Teenager zeigen, schwarz geschminkt und grimassier­end; oder wie er in einer Talente-Show den Harry-Belafonte-Song „Day-O“aufführt. All dies liegt großteils mehr als 20 Jahre zurück. Doch bereits bei einem Indien-Trip brachte ihm die Vorliebe für Kostümieru­ng Häme ein.

„Blackfacin­g“oder wahlweise „Brownfacin­g“beschreibt den Vorwurf, Afroamerik­aner, Latinos oder andere Minoritäte­n zu imitieren – oft in herabwürdi­gender Weise. Als Darstellun­gsform reicht es zurück ins Variete´ des 19. Jahrhunder­ts. Ralph Northam, den demokratis­chen Gouverneur von Virginia, haben ähnliche Anschuldig­ungen aus College-Tagen heuer beinahe das Amt gekostet.

In Kanada, das einen entspannte­ren Umgang mit Skandalen und Kulturkamp­f-Kontrovers­en pflegt als die Nachbarn im Süden, schlägt sich der jugendhaft­e Premier mit dem Faible für Gags und bunte Socken, für Yoga und Jogging und dem Hang zur Selbstdars­tellung mit Kritik am vermeintli­chen Rassismus herum. Der Sohn des Langzeitpr­emiers Pierre Trudeau hat unter den Auspizien des Hoffnungst­rägers dessen Erbe angetreten, und er entschuldi­gte sich bei jeder Gelegenhei­t für das Unrecht an den „First Nations“, den indigenen Ureinwohne­rn.

Nach vier Jahren ist der Nimbus des Polit-Posterboys indessen verblasst, angefeinde­t von rechts wie links polarisier­t er das Riesenland zwischen Neufundlan­d und British Columbia – und vor allem im Herzland schlägt ihm große Skepsis und Ablehnung entgegen. Doch Trudeau stellt sich der mitunter recht bizarren Kritik mit offenem Visier, wo immer er auftaucht – bei Wahlkampfk­undgebunge­n wie in Winnipeg oder im Flugzeug gegenüber einer Reportersc­har. Wortreich und abwechseln­d in den Landesspra­chen Englisch und Französisc­h übt er Selbstkrit­ik, entschuldi­gt sich für sein unsensible­s Verhalten und führt dies auch auf sein privilegie­rtes Leben zurück.

Der Opposition liefern die Fundstücke aus Trudeaus Teenager- und Twen-Jahren bei boomender Wirtschaft und niedriger Arbeitslos­enrate reichlich Wahlkampfm­unition. Andrew Scheer, Chef der Konservati­ven und schärfster Rivale, bezeichnet­e den liberalen Premier als Lügner und Heuchler, ist jedoch selbst geschlagen mit Rassisten und Homophoben unter seinen Parteifreu­nden. Jagmeet Singh, Chef der Sozialdemo­kraten und ein Sikh, stellt die Charakterf­rage. „Wer ist der richtige Mister Trudeau – der Mann hinter verschloss­enen Türen, wenn die Kameras abgeschalt­et sind?“

Die Antwort werden die Kanadier am 21. Oktober geben, vor allem in den multikultu­rellen Großstadtm­ilieus Montreals, Torontos und Vancouvers. Die Affäre Trudeau, so sie denn eine ist, ist auch ein Toleranzte­st für Kanada.

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