„Meinl am Graben“: Unbekannte pinke Heimat
Meinl-Reisinger. Die Spitzenkandidatin der Neos ist im ersten Bezirk in Wien aufgewachsen. Allzu verbunden fühlt sie sich ihrer alten Heimat aber nicht mehr.
Was ist Heimat? Der Begriff wird in Wahlkampfzeiten mitunter „situationselastisch“ausgelegt. Mit starkem Hang zum Ländlich-Regionalen. Alexander Van der Bellen etwa vermittelte bei seiner Präsidentschaftskandidatur den Eindruck, er hätte seine ganze Jugend im Kaunertal verbracht. Und nicht bloß wenige Jahre. Auch Sebastian Kurz „switchte“kürzlich von Meidling aufs Waldviertel. Hauptsache, weit weg von der Großstadt.
Insofern überrascht es nicht, dass Beate Meinl-Reisinger besonders laut von ihrer „zweiten Heimat Bad Aussee“schwärmt. Dirndl-Fotos inklusive. Wobei natürlich bekannt ist, dass die frühere Gemeinderätin aus Wien stammt. Nur: Woher genau? Das wiederum wissen erstaunlich wenige.
Beate Meinl-Reisinger ist nämlich exakt im Zentrum der Stadt aufgewachsen. Im ersten Bezirk, jener Gegend, die als Chiffre für Geld und Bürgerlichkeit gilt. Es ist eine spezielle Gegend für Jugendliche, wie „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak einmal in einem Selbsterfahrungsbericht schrieb: „Man kauft und bringt sein Toilettenpapier mit erhobenem Haupt nach Hause, auch und gerade, wenn man an der Neigungsgruppe Aperol aus Wien Döbling vorbeigeht.“
Ist es Meinl-Reisinger auch so ergangen? Weiß man nicht. Nachfragen zum Ort der Kindheit seien zu privat, richtet die Sprecherin aus. Und Meinl-Reisinger selbst schreibt per Mail: „Ich bin zwar im ersten Bezirk aufgewachsen, der 9. Bezirk war mir aber immer viel näher. Was wohl auch daran liegt, dass ich dort meine Schulzeit verbracht habe. Ich war sehr viel im Votivpark, im Colosseum Kino und im damaligen Cafe´ Berg zu finden.“Später sei sie sehr oft umgezogen, quasi quer durch Wien. Jetzt lebt sie wieder im Neunten. In der Innenstadt fühlt sie sich in Donaukanal-Nähe am wohlsten, weil: „Man kommt von dort sehr schnell auf die Donauinsel oder den Prater.“Also weg aus dem Ersten.
Wobei: So übel ist die Wipplingerstraße, wo Meinl-Reisinger in einem politisch interessierten Arzthaushalt aufwuchs, nun wirklich nicht. Als schmaler EinbahnSchlauch verbindet sie Hohen Markt und Ring auf Höhe der Alten Börse. Dabei führt sie hoch über den Tiefen Graben. Schaut man an der Brücke hinunter, sieht man das (mehr brave als berüchtigte) Stundenhotel Orient. Hebt man den Blick wieder und wendet sich stadteinwärts, blinkt die Spitze des Stephansdoms.
Eigentlich ein hübsches Motiv für Meinl-Reisingers Instagram-Account. Aber hier gesehen wurde sie im Wahlkampf offenbar nicht. Auch dass sie von hier kommt, wusste keiner. Zumindest ergibt das eine kleine, keinesfalls repräsentative Meinungsumfrage. Nicht einmal die grüne Bezirksrätin oder die Geschäftsfrau, die seit mehr als 50 Jahren durch ihre gläserne Auslage auf die Straße blickt: „Das höre ich zum ersten Mal“, sagt die.
Und fügt hinzu, dass es schön wäre, würden sich die Politiker auch einmal um die Wipplingerstraße kümmern. Um die omnipräsenten E-Scooter, die gefährliche Baustelle nebenan: „Irgendwann passiert einmal etwas“. Und dann gehe es auch um Prinzipielles, denn: „Die Stadt stirbt“. Es ist das bekannte Lied:
Die Mieten steigen, die alten Betriebe ziehen aus. Dass sich die Bezeichnung „Wipplinger“von einem Handwerk, nämlich den Kürschnern (mittelalterlich: „Wildwerker“) ableitet, merkt man nicht mehr. Vielmehr hat die Ankunft von „Fashion Food“, der Burritos und Poke Bowls die Straße in einen großen Mittagstisch verwandelt. Nebenwirkung: Abends wird es leer.
Leer sind auch gar nicht so wenige Schaufenster. Wegen der hohen Miete, sagt die alte Unternehmerin. Und dass dies auch für viele der hier leer stehenden Wohnungen gelte. Auch wenn freilich nicht jede so viel kostet, wie die Lofts im neu umgebauten Telegrafenamt auf dem Börseplatz: 40 Millionen Euro.
Gleich neben der neuen LuxusResidenz behauptet sich übrigens etwas Grün im vielen Steingrau. Alte Linden überdachen den Herrmann-Gmeiner-Park, der weniger Park als Kinderspielplatz ist. MeinlReisinger findet man hier gut und vor allem „g’scheit“. Ein Wort, das öfter fällt. Dass die Neos-Chefin selbst drei Kinder hat, gefällt einer jungen Mutter, „weil sie dadurch beide Seiten im Kopf hat“. Nur der Spruch von den kinderlosen Karrieristen war ihr „zu extrem“. Dass Meinl-Reisinger von hier stammt, weiß natürlich auch sie nicht und es ist ihr auch egal, wobei – Nachsatz: „Herkunft prägt schon.“
Die Straße als Kristallkugel
Ist das so? Auf der Wipplingerstraße entdeckt man jedenfalls viel, was sich in Meinl-Reisingers späterem Werdegang wiederfindet. Sie hatte viele Stationen direkt vor der Nase. Das Juridicum, wo sie studierte, ist um die Ecke. Das Alte Rathaus – ein Symbol für den Zwischenstopp in der Kommunalpolitik? Das Haus der Europäischen Union nahm quasi ihre Arbeit für Othmar Karas in Brüssel vorweg. Das Habibi & Hawara - ein Lokal, in dem syrische Flüchtlinge kochen, steht, wenn man so will, für die gesellschaftspolitisch liberale pinke Haltung. Die Kolingasse, in die die Wipplingerstraße de facto mündet, führt zum Cafe´ Stein, wo Matthias Strolz sie einst fragte, ob sie eine neue Partei gründen will.
Und auch ihre Back-up-Karriere verdankt sie ja vielleicht ihrer von Touristen und Denkmälern umzingelten Jugend: Meinl-Reisinger ist nämlich ausgebildete Fremdenführerin.