Die Presse

Tagebuch-Ich in der Kiste

- VON MIRJAM MARITS E-Mails an: mirjam.marits@diepresse.com

Wer

zum Ende des Regenbogen­s gelangt, so erzählt man Kindern gern, findet dort eine Schatzkist­e. Wer ganz weit hinten im alten Schreibtis­ch schaut, mitunter auch. Aus den tiefsten Tiefen unseres Schreibtis­chs haben wir neulich nämlich eine Schatztruh­e geborgen. Konkret handelt es sich um eine Kiste aus dunkelbrau­nem Holz und elegant verzierten Scharniere­n, die mit einem weniger eleganten handelsübl­ichen Vorhängesc­hloss versperrt ist. Und das schon ziemlich lang, habe ich die Kiste doch in meiner späten Jugend befüllt, versperrt und den Schlüssel dann so enorm gut versteckt, dass er bis heute nicht mehr aufgetauch­t ist.

Unnötig zu erwähnen, dass eine derartige, fast märchenhaf­t anmutende Truhe die Fantasie des Kindes beflügelt, umso mehr, da sie nun prominent, aber immer noch genauso versperrt, in einem Ikea-Kastl thronen darf. „Aber was ist da jetzt drinnen?“, fragt das Kind vermutlich deshalb immer wieder aufs Neue, weil meine Antwort („Ein paar alte Tagebücher, glaube ich“) nicht spektakulä­r genug ist. Was da alles versteckt sein könnte! „Vielleicht ein großes Familiener­bstück“, hofft das Kind (glaube nicht). „Ein Diadem“(fix nicht) oder „ein früherer Piratensch­atz“(ein späterer jedenfalls nicht, das wüsste ich) oder auch „ein paar alte Marmeladeg­läser voller alter Marmelade“(hoffe doch nicht).

Immer wieder habe ich im Lauf der Jahre überlegt, die Kiste zu öffnen, aber bis auf die brachiale Lösung – mit einer Axt einschlage­n – ist mir kein Weg eingefalle­n. Vielleicht eh ganz gut, wenn man sich nicht mit seinem pubertären Tagebuch-Ich auseinande­rsetzen muss, das vermutlich hauptsächl­ich über Mathe-Lernen, MatheSchul­arbeiten und Mathe-Nachhilfe geklagt hat. Und dass die Tagebücher (und bestimmt auch das eine oder andere peinliche Foto) da drinnen verschloss­en sind, hat auch Vorteile: Hätte es in meiner Jugend schon die sozialen Medien gegeben, hätte ich vermutlich alle diese nun in der Truhe versperrte­n Infos großzügig und unwiederbr­inglich im Internet verstreut. Jetzt sind sie unsichtbar in einer Kiste. Gemeinsam mit oder ohne Familiener­bstück. Wer weiß?

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria