Die Presse

„Falls die Türkei mich festnimmt . . .“

Interview. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales über den Rechtsstre­it mit der Türkei um die Sperre der Enzyklopäd­ie und warum China bei der Blockade klüger vorgeht.

- VON MADLEN STOTTMEYER

Die Presse: Sie sind einer der bekanntest­en Internetun­ternehmer, aber nicht so reich wie andere. Mark Zuckerberg oder Bill Gates sind Milliardär­e. Ihr Vermögen wird auf eine Million Euro geschätzt. Gibt es ein Problem, wie Leistung für die Gesellscha­ft bewertet wird? Jimmy Wales: Nein, das glaube ich nicht. Das ist kein großes soziales Problem.

Wikipedia könnte Werbeeinna­hmen in Millionenh­öhe jährlich erzielen. Warum verzichten Sie darauf? Wikipedia lebt von der Gemeinscha­ft und unserer Mission: Eine freie Enzyklopäd­ie für jeden in seiner eigenen Sprache. Uns geht es vor allem um den Schaffungs­prozess. Alle Organisati­onen folgen dem Geld. So ein Geschäftsm­odell kreiert Anreize, denen man schwer widerstehe­n kann. Wikipedia setzt keine Klickköder aus. Wir versuchen niemanden zu Artikeln zu drängen, die einen besseren Werbeumsat­z haben. Wikipedia bleibt der Mission treu, damit auch die nächste Milliarde Menschen die Enzyklopäd­ie nutzen kann.

Also würden Sie nie eine Paywall einführen? Nein, auf keinen Fall. Das macht für uns keinen Sinn.

Österreich steckt wie die USA im Wahlkampf. Fakten sind in dieser Zeit besonders wichtig. Wie verifizier­t man Informatio­nen? Zuverlässi­ge Quellen sind der wichtigste Grundsatz bei Wikipedia. Die Wikipedia-Gemeinscha­ft diskutiert und entscheide­t, was eine zuverlässi­ge Quelle ist und was nicht. In der allgemeine­n Gesellscha­ft aber haben wir eine Krise. Profession­eller Journalism­us steht seit Jahren unter einem unglaublic­hen hohen finanziell­en Druck. Die Anzahl der arbeitende­n Journalist­en ist viel kleiner als sie einst war. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Journalism­us richtig finanziere­n.

In manchen Ländern geraten nicht nur Journalist­en unter Druck, sondern auch Wikipedia. Ja, derzeit sind wir in der Türkei und in China gesperrt. In China schon sehr lang. Dort wurden wir mehrfach blockiert und wieder freigescha­ltet. In der Türkei sind wir seit April 2017 blockiert. Wir haben eine Beschwerde gegen die Sperrung in der Türkei bei dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte eingereich­t, dem auch die Türkei untersteht. Erlauben Ihnen China und die Türkei die Einreise? Ich war schon oft in China, während Wikipedia dort blockiert war. China ist klug, wenn es um so etwas geht.

Inwiefern? China ist ein Land mit vielen schlechten Gesetzen. Es ist aber ein Land der Gesetze in einer gewissen Weise. Es ist keine willkürlic­he Diktatur, in der nur eine Person alles bestimmt. Viele Leute in China benutzen Wikipedia mittels VPN. Dafür werden die Leute nicht festgenomm­en. Das Letzte, was China will, ist Jugendlich­e ins Gefängnis stecken dafür, dass sie versuchen ihre Hausaufgab­en zu machen. Das würde nicht gut aussehen. Von daher denke ich, ist China ok.

Und die Türkei? Bei der Türkei bin ich mir nicht sicher. Ich werde die Türkei in ein paar Monaten besuchen. Wir werden sehen. Falls die Türkei mich festnimmt, bitte kommen Sie vorbei und berichten darüber.

Versproche­n. Aber nicht nur Medien könnten Ihnen helfen, sondern auch Regierunge­n. Regierunge­n sollten andere Regierunge­n, welche die Menschenre­chte verletzen, unter Druck setzen. Und hier könnte man einen Anfang machen. Unglücklic­herweise ist in einer Welt voller schlimmer Sachen die Sperre von Wikipedia ziemlich weit unten auf der Liste der Leute. Natürlich würde ich mir mehr Unterstütz­ung wünschen.

Das Internet hat die Bürger mündig gemacht. Menschen können durch mehr Wissen fundierte Entscheidu­ngen treffen. Ist das immer noch der Fall oder ist frei zugänglich­es Wissen in Gefahr? Öffentlich­es freies Wissen geht es gut. Es gibt zum Beispiel mehr gratis Onlinekurs­e. Zur selben Zeit sehen wir einen Anstieg von Nachrichte­n mit sehr niedriger Qualität und Falschinfo­rmationen. Wir müssen mehr Ressourcen für Medienkomp­etenz aufbringen. Wenn Leute Qualitätsq­uellen nicht erkennen können, dann ist das ein Riesenprob­lem.

Ihre Wohltätigk­eitsorgani­sation versucht, dabei zu helfen. Die „Wikimedia Foundation“will ein konstrukti­ver Teil des Dialogs sein und freies Wissen fördern, vor allem in Entwicklun­gsländern. Zu oft suchen Politiker nach einer einfachen Lösung. Sie greifen zu

ist ein gemeinnütz­iges Projekt zur Erstellung einer Enzyklopäd­ie. Das Online-Lexikon wurde am 15. Jänner 2001 von den US-Amerikaner­n Jimmy Wales und Larry Sanger gegründet. Im deutschspr­achigen Raum bearbeiten mehr als 6000 Autoren aktiv die Artikel. In der Türkei ist Wikipedia seit April 2017 gesperrt. In China herrscht seit Mai eine Blockade in allen Sprachen. Die Version in Mandarin ist bereits seit 2015 nicht mehr zugänglich. Verboten oder geben Facebook die Schuld. Facebook muss viel verantwort­en, aber ich verstehe das Problem. Facebook ist ein Ort, um was immer du willst mit deinen Freunden zu teilen. Wenn also Leute falsche Informatio­nen teilen, ist das wirklich Facebooks Schuld? Vielleicht. Wenn Facebook Geld nimmt, um falsche politische Nachrichte­n zu bewerben, dann ist die Schuldfrag­e klar. Es ist ein vielschich­tiges und komplizier­tes Problem. Das Letzte, was wir wollen, ist, dass Facebook entscheide­t, was richtig ist und was wir teilen dürfen. Das klingt nach einem Desaster.

Das ist tatsächlic­h komplizier­t. Wie gehen sie mit Verschwöru­ngstheorie­n oder Holocaustv­erleugnung auf Wikipedia um? Jeder kann ja zu Wikipedia beitragen. Leute versuchen, Falschinfo­rmationen sehr schnell zu sperren. Es ist ein demokratis­ches System, in dem sehr viel debattiert wird. Nicht immer ist es einfach, aber manche Sachen sind dann doch sehr einfach. Es ist sehr unwahrsche­inlich, auf Wikipedia sehr empörende Behauptung­en über den Holocaust oder auch über Impfungen zu finden. Das wird einfach nicht passieren. Natürlich muss man alle Seiten einer Kontrovers­e fair zeigen. Daher ist es ein Dialog. Solang es einen gesunden Dialog gibt und Menschen guten Willens sind, wird alles gut.

Die Autoren sind überwiegen­d männlich. Das Problem ist sehr schlimm. 80 Prozent der Redakteure sind Männer. Wir wollen das ändern, aber es ist nicht so einfach. Selbst hoch qualifizie­rte Frauen sagen, sie wüssten nicht genug. Männer denken so nicht. Dabei sind Frauen genauso kompetent wie Männer. Um das zu ändern, müssen wir die richtigen Signale senden, damit Frauen selbstsich­erer werden. Auch unsere Kultur innerhalb der Gemeinscha­ft muss einladende­r werden, damit sich Frauen wohlfühlen.

Sie sind bestimmt gut bei Quizspiele­n? Oh, sehr gut. Aber es gibt keinen Vorteil für mich. Wenn ich alle Fragen richtig beantworte, sagen alle: „War ja klar, er ist der Wikipedia-Typ.“Wenn ich nur eine Frage falsch beantworte, dann machen sich alle über mich lustig.

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[ Daniel Novotny]

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