„Grand Hotel Abgrund“bittet zum Kunstgenuss
Steirischer Herbst. Intendantin Ekaterina Degot gibt mit ihrem zweiten Festivalprogramm eine klare Richtung vor. Es funktioniert auf mehreren Ebenen und folgt der alten Erzählung von einer dekadenten Gesellschaft vor dem Untergang.
Es dauert seine Zeit, bis auch alle internationalen Journalisten es verstanden haben. Die Buchstabenreihe „ÖDUOPFER“, die auf dem knallig pinken Obelisken im Stadtpark zu lesen ist, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Aber auf den zweiten. So rückte auch schon in der zweiten Nacht der Intervention des Wiener Künstlers Eduard Freudmann, der hier das „Befreiungsdenkmal“(befreit von den Alliierten) verhüllt hat, ein Grazer Sprayer oder eine Sprayerin aus, um dem hier karikierten österreichischen Opfermythos etwas hinzuzufügen, in steirischem Grün natürlich: „I love Ö“steht da jetzt auch. Eine sich ebenfalls erst auf den zweiten Blick entlarvende Liebeserklärung (an den Opferstatus nämlich).
Künstler, Intendantin und Journalisten sind jedenfalls entzückt von so viel volkstümlicher Vielschichtigkeit. Und Graz hat etwas, worüber es sich aufregen kann. Es ist also wieder einmal ein Steirischer Herbst, der alle in der über 50-jährigen Geschichte dieses Festivals tradierten Stückerl spielt: ein bisschen provokante Kunst im öffentlichen Raum, die mitteleuropäische Dekadenz des sicheren Hafens, internationale Aufmerksamkeit durch eine prominente Künstlerschaft und sogar ein wenig harten, aber lustigen Sex. Dazu später.
Nicht unspannend, aber vorhersehbar
In ihrem zweiten Steirischen Herbst ist die neue Intendantin, die russische Kuratorin Ekaterina Degot, angekommen. Nach einer etwas unklaren, von Zeitknappheit geprägten Premiere 2018 wird diesmal die von ihr vorgegebene Richtung klar. Und die ist nicht unspannend, wenn auch nicht völlig unvorhersehbar. Schon mit ihrem ausgegebenen Motto zitiert Degot den marxistischen Philosophen und Kulturpolitiker George Lukacs:´ „Grand Hotel Abyss“(also Untergang) hieß ein erst posthum – Lukacs´ starb 1971 in Budapest – auf Deutsch erschienener Text aus 1933. Darin beschrieb er den damals von ihm mit Ekel beobachteten „Totentanz der Weltanschauungen“als unterhaltsames Hotel-Jazz-Programm für die herumlungernden linken Intellektuellen Europas. Man wagt fast zu vermuten, dass Lukacs´ diesen Text ohne seine Zeit im Wien der 1920erJahre wohl nicht so genannt hätte. Aber auch auf das heute als „Genusshauptstadt“beworbene Graz passt er vorzüglich.
Vorzüglich natürlich auch der reichlich gereichte Rose-´Sekt und die Blini-Häppchen, die Degot beim ausverkauften Eröffnungsabend am Donnerstag im Grazer Kongress servieren ließ. Es war ein Abend der wahren Dekadenz für so ein budgetär immer prekäres Festival. Eine Ausstellung für nur eine Nacht, nur aus einmaligen Performances und Installationen bestehend. Für derartige Eröffnungs-Happenings war der Steirische Herbst einmal berühmt, aber das ist auch schon länger her. Degot nimmt diese Tradition wieder auf und probiert sie für sich aus, genau wie die anfangs bereits erwähnte Denkmal-Befragung. Sie ist in Graz speziell aufgeladen, seit 1988 die NSVergangenheits-kritische MariensäulenVerhüllung des Konzeptkünstlers Hans Haacke abgefackelt wurde.
Wer in dieser Reihe auch noch drankommt, ist der glühende Nationalsozialist und steirische Volksdichter Hans Klöpfer. Seine unkommentiert am Schlossberg stehende Büste und das in seiner Sterbestadt Köflach stehende Denkmal wird der Künstler Thomas Geiger bei einer Performance „befragen“. Eine ähnliche kritische Befragung würde man sich allerdings auch bei den Memorabilien Georg Lukacs’´ wünschen, dem Degot und Kuratorenkollege David Riff im Grazer Literaturhaus eine Art Weiheraum eingerichtet haben (sein Archiv in Budapest wurde von der Orban-´Regierung geschlossen). Lukacs’´ Rolle im Stalinismus und der ungarischen Räterepublik ist freilich nicht völlig geklärt.
Achtung, Spione in Grazer Hotels!
Dass sich heute weltweit wieder ideologische Abgründe auftun, historisch nicht vergleichbar, ist ein Faktum, das sich durch den „Herbst“zieht. Wenn etwa der englische Künstler Jeremy Deller in einer köstlichen Videoinstallation im Künstlerhaus die täglich vor Westminister aufmarschierenden Protestanten pro und kontra Brexit gleichermaßen zu Wort kommen lässt. Wenn der bulgarische Künstler Nedko Solakow, der sich selbst als Exspitzel des Geheimdienstes geoutet hat, in Grazer Hotels drollige SpionFigürchen versteckt – und man denkt: So „Lost“wie im Titel der Intervention sind diese „Cold War Spies“vielleicht auch nur in ihrem Retro-Äußeren. Oder wenn der italienische Künstler Riccardo Giacconi in einer herausragenden Ausstellung im Grazer Kunstverein das Dilemma der Südtiroler in ihrer Wahl zwischen zwei Übeln in zeitlose populistische Symbolik zerlegt.
Die Kooperation mit Grazer Institutionen ist auch so eine Tradition, die Degot wieder aufnehmen konnte. Womit wir beim Sex wären, in diesem Hotel am Abgrund. Eine nicht nur äußerst bildstarke Einstimmung auf die Formbarkeit von Körper und Geschlecht gab schon am ephemeren Eröffnungsabend ein von Jakob Lena Knebl inszeniertes Tableau vivant: professionelle, terracotta- und goldfarben bemalte Bodybuilder posierten sichtlich vergnügt mit scheußlichschönen 70er-Jahre-Vasen. Sie stellten damit sozusagen die Verhausschweinung von Utopien dar, von der orgiastisch-antiken Vasenmalerei bis zu Alt-68er-Träumen. Die ultimative Orgien-Persiflage aber wummert in der List-Halle: US-Künstler Michael Portnoy hat im „Herbst“-Auftrag zu Progressive Rock und Metal-Musik eine mächtige Videoinstallation über eingefahrene Rituale verschiedener sexueller Ausrichtungen choreografiert. Das ist hart. Aber auch sehr komisch. Und das ist in der vorwiegend bierernsten Kunst heute schon die halbe Miete. Bis 13. 10. Programm: www.steirischerherbst.at