Atwood schreibt Testamente, Rushdie reitet wie Quichotte
Es wird langsam Zeit für die Anrufe aus Stockholm.
Unverhoffte Botschaften aus dem Jenseits sind bei Propheten und Scharlatanen oder in spektakulären Filmen üblich, die zurück in die Zukunft führen. Von dort erscheint etwa mit Blitz und Donner ein Terminator nackt wie Deus ex machina auf Erden, um das schlimmste künftige Geschehen zu korrigieren.
Solch einen Blick nach vorn in der Zeitachse hat es soeben im weiten Feld der Epik gegeben. Betroffen ist Margaret Atwood. Das passt irgendwie, denn die Grande Dame der kanadischen Weltliteratur schreibt gelegentlich apokalyptische Utopien. In der Handbibliothek für Allerneuestes im Lesezirkel des Gegengiftes gibt es Benützer, die sich seit Erscheinen von „The Edible Woman“1969 wünschen, dass Atwood einen Nobelpreis bekäme. Sie wittern nun Morgenluft.
Auf Twitter wurde eine Indiskretion ruchbar – ein Foto, das den im September erschienenen Roman Atwoods mit einem verräterischen Sticker am Cover zeigt: „Booker Prize 2019“steht unter dem Titel von „The Testaments“, Fortsetzung des genialen Buches „The Handmaid’s Tale“(„Der Report der Magd“). Der 1985 erschienene erste Teil spielte in einer Zukunft, die inzwischen erheblich näher gerückt zu sein scheint. Man könnte der Autorin beinahe seherische Qualitäten andichten. Teil zwei („Die Zeuginnen“) beginnt 15 Jahre später. Er liest sich wie ein Dej`´a-vu: Morgen ist fast schon wieder heute.
Der Booker Prize wird jedoch erst am 14. Oktober in London vergeben. Falls die Spekulation stimmte, wäre es schlimm für die Betroffenen. Neben Atwood haben sich noch drei weitere exzellente Autorinnen der Short List Hoffnungen auf die mit 50.000 Pfund dotierte Auszeichnung gemacht: Lucy Ellmann, Bernardine Evaristo und Elif Shafak. Sowie zwei nicht minder exzellente Männer: Chigozie Obioma und die lebende Legende Salman Ruhsdie. Er wurde diesmal mit dem fabulös in der Gegenwart handelnden „Quichotte“nominiert. Durch den Frühstart des Booker-Prize-Pickerls wird er sich wohl vorkommen wie ein Poet, der gegen Windmühlen reitet. Atwood, dutzendfach ausgezeichnet, hat den wichtigsten britischen Literaturpreis übrigens tatsächlich bereits gewonnen: Im Jahr 2000 für das fantastische Buch „The Blind Assassin“. Mit ihren Werken „The Handmaid’s Tale“, „Cat’s Eye“und „Alias Grace“war sie zuvor schon im Finale dafür gestanden, danach war sie erneut dabei, mit „Oryx and Crake“.
Rushdie hat diesen Preis nicht nur 1981 für „Midnight’s Children“gekriegt, sondern für denselben Roman auch 1993 den „Booker of Bookers“zum 25. sowie 2008 „The Best of the Bookers“zum 40. Jubiläum der Auszeichnung. Rushdie und Atwood sind längst Klassiker. Es wird langsam Zeit für die Anrufe aus Stockholm.