Geistige Blüte inmitten von Hunger und Not
Das Schicksal der Dichter und Denker in der Zwischenkriegszeit.
Wien 1918. Der Große Krieg ist zu Ende, doch die, die überlebt haben, beneiden fast die Gefallenen. Eine Hungerkatastrophe rafft die Ermüdeten und Verzweifelten dahin. Ein Reporter des Deutschen Gewerkschaftsbunds beschreibt die Lage so: „Das Wiener Elend der Gegenwart ist in Mitteleuropa ohnegleichen. Seit den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges hat man in unserer Zeit ähnliche Zustände nur aus Schilderungen russischer oder indischer Hungergebiete gehört . . .“
Der Zeithistoriker Herbert Lackner beschreibt in seinem jüngsten Werk die Diskrepanz zwischen bitterer Armut nach dem Ersten Weltkrieg und der einzigartigen Blüte von Kunst und Kultur in dieser verhungernden Stadt.
Nicht alle freilich hungern. Weder Arthur Schnitzler in der Währinger Cottage noch Stefan Zweig, Sohn eines Textilfabrikanten am Schottenring. Soeben hat er das ehemalige Jagdschlössel der Fürsterzbischöfe am Salzburger Kapuzinerberg gekauft. Seit 1912 wohnt in der Nähe Hermann Bahr im Schloss Arenberg. Und Alma Mahler, geb. Schindler, gesch. Gropius, künftige Werfel, gibt in ihrem Salon in der Elisabethstraße Hauskonzerte.
Noch einer kauft sich ein Schloss in Salzburg. Ein noch viel größeres: Max Reinhardt. Leopoldskron ist zwar baufällig, aber bald wird es der Elite des österreichischen Geisteslebens für rauschende Feste offenstehen. Hugo von Hofmannsthal entwirft den Plan von alljährlichen Festspielen als Gegenveranstaltung zu Bayreuth: „Der bayrisch-österreichische Stamm war von je der Träger des theatralischen Vermögens unter allen deutschen Stämmen. Alles, was auf der deutschen Bühne lebt, wurzelt hier, so das dichterische Element, so das schauspielerische.“
Das abwechslungsreiche Liebesleben der bereits 54-jährigen Alma, inzwischen mit dem in Italien beschäftigten Franz Werfel verheiratet, hat es Herbert Lackner angetan. So lernt sie in ihrer Villa bei einem Essen für den Wiener Erzbischof Theodor Innitzer den Theologieprofessor Johannes Hollnsteiner kennen – und lieben. Der 38-Jährige wird als Nachfolger Innitzers gehandelt, das ideale Beuteschema für Alma Mahler-Werfel: „Hier ist der erste Mann, der mich überwunden hat.“Der Geistliche, für den sie eine hübsche Absteige mietet, soll gemeint haben, das Keuschheitsgebot gelte nur, solange man den Talar trage. Zumindest behauptet dies Almas Tochter Anna in ihren Erinnerungen . . .
Kurz vor Weihnachten 1931 eröffnet die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ihre österreichische Dependance, ein „Braunes Haus“. In der Mariahilfer Hirschengasse beherbergt es vierzig Büros der Parteileitung. Von hier aus breitet sich die Agitation der Nazis wie ein Buschbrand aus. Sie haben Zulauf bei jeder Landtagswahl, der Bürgerkrieg, der eigentlich schon 1927 mit dem Brand des Justizpalasts begonnen hat, reißt 1938 alles in den Abgrund.
Als es so weit ist, wird der Komponist Robert Stolz von seinem Bruder angerufen, mit dem er seit Jahren keinen Kontakt unterhalten hat: Am nächsten Morgen werde die Geheime Staatspolizei kommen „und dich und deine ganze jüdische Bagage“festnehmen. Noch in der Nacht kann Stolz fliehen. Ungezählten anderen ist das nicht mehr geglückt.
Herbert Lackner