Gut gesammelt ist besser geforscht
In ganz Europa existieren riesige Archive mit Patientenproben, die zu einem Netzwerk mit einheitlichen Standards verbunden werden sollen. Für die Erforschung von Krankheiten und ihre Diagnose birgt das enormes Potenzial.
Blut, Urin, Speichel oder Gewebeproben – bei vielen medizinischen Untersuchungen werden Körperflüssigkeiten oder Biopsien entnommen, um Näheres über den Gesundheitszustand des Patienten zu erfahren. Meist braucht man nur einen Teil davon für die Diagnostik, was übrig bleibt, wird entsorgt. Auch operativ entfernte Tumore oder erkrankte Organteile landen oft im Abfall.
Dabei ist dieses biologische Patientenmaterial von unschätzbarem Wert für die Forschung, sagt der Pathologe Kurt Zatloukal von der Medizinischen Universität Graz. „In solchen Proben findet man Zellen, DNA, oder Stoffwechselprodukte, die enorm viele Informationen enthalten. Mit modernen Analysemethoden lassen sich oft viele Jahre nach der Probenentnahme wichtige Erkenntnisse über den Ursprung oder den Verlauf der jeweiligen Krankheit gewinnen – wenn das Material rechtzeitig und richtig konserviert wurde.“
Kampf gegen die Zeit
Genau das ist die zentrale Aufgabe sogenannter Biobanken: medizinische Proben möglichst unverändert und dauerhaft der Forschung zur Verfügung zu stellen. Für die behandelnden Ärzte eine große Herausforderung, denn sobald das entnommene Material den Körper verlassen hat, beginnt es sich chemisch zu verändern. „Diese chemischen Prozesse muss man so früh wie möglich stoppen und die Probe stabilisieren, etwa durch schnelles Einfrieren mit flüssigem Stickstoff oder durch Chemikalien wie Formalin. Um dabei vergleichbare Proben zu erhalten, braucht es exakte Standards für die Entnahme, den Transport oder die Lagerung“, erklärt Zatloukal.
Seit mehr als einem Jahrzehnt bemüht sich der Grazer Mediziner darum, die vielen Archive mit Körperflüssigkeiten und Gewebeproben, die in Instituten und Kliniken in ganz Europa gesammelt werden, für die Forschung zusammenzuführen und zugänglich zu machen. Mit einigem Erfolg: Die europäische Biobanken-Forschungsinfrastruktur BBMRI-ERIC wird von Graz aus aufgebaut und betreut: Rund 500 Biobanken aus 20 Mitgliedstaaten nehmen derzeit daran teil. Insgesamt hat das Netzwerk bereits über 100 Millionen Proben erfasst.
Es gebe aber noch viel zu tun, längst nicht alle europäischen Biobanken hätten genügende und einheitliche Qualitätsstandards, so Zatloukal. Außerdem sei der Zugriff auf die mit den Proben zusammenhängenden Daten durch die unterschiedlichen Rechtssprechungen der verschiedenen Länder nicht immer einfach. Zunehmend wichtig sei außerdem die umfassende Digitalisierung der Biobanken, um neue Technologien wie maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz in der Pathologie nutzen zu können. Je besser und größer die digitalen Datensätze, umso eher ließen sich aus den teilweise Jahrzehnte alten Proben neue Erkenntnisse gewinnen.
Jahrzehnte vorausdenken
Als Paradebeispiel führt er histologische Schnitte von in Paraffin eingebetteten Tumoren auf, die derzeit zu Tausenden an der Grazer Med-Uni digitalisiert werden. „Noch vor wenigen Jahren wurden diese Schnitte, die routinemäßig bei Tumor-Operationen angefertigt werden, in Biobanken kaum beachtet. Doch durch die Möglichkeiten des maschinellen Lernens haben sie völlig neue Relevanz bekommen.“Verknüpft mit Daten aus Gensequenzierungen und der Patientengeschichte lassen sich aus den digitalisierten Gewebeschnitten neue Erkenntnisse über morphologische Veränderungen im Laufe einer Tumorerkrankung gewinnen und die Diagnose und Therapie verbessern. Beim Sammeln der Proben für eine Biobank müsse man daher auch immer bedenken, dass sie die Forschung der nächsten Jahrzehnte unterstützen müssen, sagt Zatloukal.
In den nächsten fünf Jahren sollen jene österreichischen Biobanken, die besonders hochwertige Proben und Daten beinhalten, von den an der österreichischen Biobanken-Infrastruktur beteiligten Universitäten zu sogenannten Leuchtturm-Sammlungen weiterentwickelt werden, kündigt der Pathologe an. Das soll ihre internationale Sichtbarkeit und Nutzung erhöhen. Noch könne er zwar nicht sagen, wer dieses Label bekommen wird, es gebe hierzulande aber „eine Reihe hochinteressanter Sammlungen“.