Die Presse

Zwischen Dienstbote­nmentalitä­t und „guter Familie“

Ein Sozialfors­chungsproj­ekt unterzieht die 24-Stunden-Betreuung kranker Menschen einer kritischen Bestandsau­fnahme.

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Seit Langem ist offenkundi­g, dass in den alternden Gesellscha­ften Mitteleuro­pas eine Lücke im System klafft, wenn es darum geht, Menschen mit Demenz oder schweren Erkrankung­en in ihrem häuslichen Umfeld zu betreuen.

Um diese Lücke zu schließen, wurde in Österreich vor elf Jahren das Modell der 24-Stunden-Betreuung legalisier­t: Agenturen vermitteln an österreich­ische Privathaus­halte Betreuerin­nen aus Osteuropa. Diese werden dort einquartie­rt und stehen über Wochen zur Verfügung, um einfache Pflegetäti­gkeiten zu verrichten, den Betreuten Gesellscha­ft zu leisten oder im Haushalt zur Hand zu gehen. Da es sich um keine ausgebilde­ten Pflegekräf­te handeln muss und man derzeit noch vom weitaus niedrigere­n Lohnniveau in den Herkunftsl­ändern – meist Rumänien und Slowakei – profitiert, ist diese Art der Dienstleis­tung für viele hierzuland­e einigermaß­en erschwingl­ich. Durchschni­ttlich 2500 Euro beträgt heute der monatliche Preis für eine agenturver­mittelte Betreuerin, den die Betreuten teilweise durch Pflegegeld oder andere Zuschüsse abdecken. Er werde allerdings durch Preisdumpi­ng deutlich unterschri­tten und durch hochpreisi­ge Angebote für spezielle Bedarfe deutlich überschrit­ten, sagt die Soziologin

sind derzeit in Österreich ungefähr registrier­t. 95 Prozent davon sind Frauen, 80 Prozent stammen aus Rumänien und der Slowakei.

kostet eine agenturver­mittelte Personenbe­treuung für Privathaus­halte im Schnitt pro Monat. Rund 800 Agenturen mit Sitz in Österreich widmen sich seit 2019 diesem Geschäft. 2007 waren es nur 40 Agenturen. Brigitte Aulenbache­r, die an der Universitä­t Linz ein Forschungs­projekt zu vermittelt­er Personenbe­treuung leitet. „Circa 99 Prozent der Personenbe­treuerinne­n und -betreuer sind Selbststän­dige, womit sie die unternehme­rischen Risken tragen, die Sozialvers­icherungsk­osten niedrig gehalten werden und das Arrangemen­t für Privathaus­halte der Mittelschi­chten bei gegebener staatliche­r Unterstütz­ung leistbar ist.“

Die Universitä­tsprofesso­rin untersucht zusammen mit einem Sozialwirt und einer Soziologin im Projekt „Gute Sorgearbei­t? Transnatio­nale Home Care Arrangemen­ts“das Funktionie­ren von 24-StundenBet­reuung, unter anderem durch ausführlic­he Interviews mit Betroffene­n – nicht nur in Österreich, sondern auch (zusammen mit deutschen und Schweizer Forscherin­nen) im länderüber­greifenden Vergleich. Schließlic­h unterschei­de sich das österreich­ische Modell, das auf selbststän­dig tätigen Betreuungs­kräften beruht, grundlegen­d vom deutschen EntsendeMo­dell – mit einer deutschen Vermittlun­gsagentur und einem sogenannte­n Entsendeun­ternehmen, bei dem die Pflegerinn­en angestellt sind – und vom Schweizer Modell des Personalle­asings. Das österreich­ische Modell werde in Deutschlan­d, beispielsw­eise von Agenturver­tretern und Lobbyisten, als nachahmens­wert gesehen, wie die deutschen Forschungs­partnerinn­en herausgefu­nden hätten, sagt Aulenbache­r. In der Schweiz hingegen sei die Selbstorga­nisation der Betreuerin­nen weitaus stärker vorangesch­ritten als in Deutschlan­d und in Österreich. „Dort sind Gewerkscha­ften in diesem Feld bereits längst aktiv.“

Aus den Interviews mit Betreuende­n und Betreuten ergeben sich Ansprüche, die widersprüc­hlicher nicht sein könnten: „Agenturen kritisiere­n, dass Haushalte unangemess­ene Anforderun­gen an die Betreuungs­kräfte stellen, wie 24-stündige Verfügbark­eit, Zusatzarbe­it im Garten, bei der Autopflege, in der Versorgung weiterer Familienmi­tglieder.“Sie bezeichnen dies als „Dienstbote­nmentalitä­t“. Angehörige hingegen würden das aus ihrer Sicht erforderli­che Engagement in der Betreuung vermissen und eine stärkere Berücksich­tigung der Lebensgewo­hnheiten wie Essensvorl­ieben oder Ruhebedürf­nisse der Betreuten erwarten. „Die Betreuerin­nen selbst sprachen ihre Isolation im Haushalt, den schwierige­n Umgang beispielsw­eise mit Demenzkran­ken und ihre Belastung an, wenn sie nachts mehrmals aufstehen müssen.“

Den Regelungsb­edarf in solchen Angelegenh­eiten zeigten auch zwei Formulieru­ngen auf, die in den Interviews immer wieder vorkämen: „Wenn die Chemie stimmt“bzw. wenn es eine „gute Familie“sei, wären viele Probleme leichter lösbar.

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