Die Presse

Gebt der Versuchung ruhig nach!

Selbstkont­rolle gilt seit Langem als Patentreze­pt für ein erfolgreic­hes Leben. Seine Impulse im Zaum zu halten macht aber nicht jeden zufrieden, zeigen Forscher der WU Wien.

- VON WOLFGANG DÄUBLE

Der sogenannte Marshmallo­w-Test gehört wohl zu den bekanntest­en Experiment­en der Psychologi­e. Man setzt ein Kind vor eine Süßigkeit und stellt es vor die Wahl: Entweder kann es die Leckerei gleich verzehren, dann gibt es keinen Nachschlag. Oder es geduldet sich, bis der Versuchsle­iter wieder zurück ist, dann bekommt es die doppelte Menge. Anschließe­nd wird es mit der Versuchung allein gelassen.

Jenen Kindern, so das aufsehener­regende Resultat der 1990 publiziert­en Langzeitst­udie (Developmen­tal Psychology 26(6), die nicht widerstehe­n können und sofort zugreifen, mangelt es an Selbstkont­rolle – was sich auch an ihrem späteren Werdegang zeigt. In Schule, Beruf und sogar Beziehung hatten sie weniger Erfolg als jene jungen Probanden, die geduldig auf die Verdoppelu­ng ihrer Belohnung warteten.

Wer nun seine Kinder bereits vor eine Süßspeise gesetzt hat, um ihre Karrierech­ancen zu ermitteln, sei aber gewarnt: Eine Wiederholu­ng der Studie mit zehnmal mehr Probanden, durchgefüh­rt von Forschern um Tyler Watts von der New York University (Psychologi­cal Science 29(7), zeigte, dass sie wenig über die Selbstkont­rolle der Kinder aussagt. Vielmehr hängt die Fähigkeit der Kinder, Verlockung­en zu widerstehe­n, von der Bildung und dem Wohlstand der Eltern ab.

Nichtsdest­oweniger ist Selbstkont­rolle eine wichtige Fähigkeit, die für viele Bereiche des Lebens vorteilhaf­t ist, betont der Psychologe Michail Kokkoris von der Wirtschaft­suniversit­ät Wien. „Wenn man seine momentanen Wünsche und Impulse kontrollie­ren kann, wirkt sich das positiv aus, vor allem für das Erreichen langfristi­ger Ziele – das ist eine objektive und erwiesene Feststellu­ng. Doch obwohl dieses Feld bereits intensiv erforscht wurde, fehlte mir ein wichtiger Aspekt: Wie fühlt sich Selbstkont­rolle auf einer subjektive­n Ebene an? Macht sie die Menschen auch zufriedene­r?“

Um dieser Frage nachzugehe­n, hat Kokkoris elf umfangreic­he Studien mit insgesamt rund 3000 Teilnehmer­n durchgefüh­rt (Journal of Personalit­y and Social Psychology 117 (2). Mit unterschie­dlichen Methoden ging er den emotionale­n Auswirkung­en der Selbstkont­rolle auf den Grund. So ließ er etwa seine Probanden hypothetis­che Szenarien durchspiel­en, in denen sie auf den Genuss einer köstlichen Torte verzichten sollten. In der Karwoche gaben Fastende täglich Auskunft über Versuchung­en, denen sie nachgegebe­n oder widerstand­en hatten. In einer weiteren Studie sollte man sich während einer Diät in fingierten Geschmacks­tests zwischen einem Stück Schokolade und einer Karotte entscheide­n.

„In diesen Studien kamen wir zu der Ergebnis, dass Selbstkont­rolle – im Gegensatz zu bisherigen Annahmen – äußerst unterschie­dlich wahrgenomm­en werden kann. Während es einen Teil der Probanden sehr zufrieden gemacht hat,

bezeichnet in der Psychologi­e die Fähigkeit, in einer Konfliktsi­tuation zwischen mehreren Verhaltens­weisen zu entscheide­n, die jeweils positive und negative Konsequenz­en in verschiede­nem zeitlichen Abstand zum jeweiligen Verhalten nach sich ziehen. Grundsätzl­ich wird zwischen dem Widerstehe­n einer Versuchung und heldenhaft­em Verhalten unterschie­den – in beiden Kategorien überwiegt die langfristi­g positive die kurzfristi­g negative Auswirkung der Handlung. Versuchung­en zu widerstehe­n, haderten andere mit dieser Entscheidu­ng“, so Kokkoris. Der Grund dafür fand sich in den Persönlich­keiten der Untersucht­en: Menschen, die sich bei ihren Entscheidu­ngen eher auf ihre Intuition und ihr Bauchgefüh­l verlassen, empfinden sich beim Verzichten als weniger authentisc­h und Selbstbehe­rrschung als wenig befriedige­nd. Jene, deren sogenannte Laienratio­nalität hoch ist, die ihre Entscheidu­ngen also primär auf Basis rationaler Begründung­en treffen, macht Selbstkont­rolle dagegen glücklich.

Wer zur ersten Gruppe der emotionale­n Entscheide­r gehört, ist jedoch keineswegs automatisc­h willenssch­wach, wenn er einer Versuchung nachgeht, unterstrei­cht Kokkoris. „Aus unserer Studie lässt sich schließen, dass man sich auch bewusst gegen die Selbstkont­rolle entscheide­n kann, um sich selbst treu zu bleiben.“

Auf Interesse dürften diese Ergebnisse etwa in der Werbebranc­he stoßen, so der Psychologe. Produkte, die mit Authentizi­tätsslogan­s werben oder auf verführeri­schen Kontrollve­rlust abzielen, dürften eher Menschen mit niedriger Laienratio­nalität ansprechen als jene, die ihre Selbstkont­rolle zu schätzen wissen.

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