„Wir sind heute besser auf Goethe vorbereitet“
200 Jahre nach ihrem Erscheinen findet Goethes Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“mehr Anklang beim Publikum als damals. Die Komparatistin Anke Bosse erlaubt den Blick in die poetische Werkstatt des Dichters.
Lasst mich weinen! Das ist keine Schande. Weinende Männer sind gut“, stellte der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe fest. Ein Gegenentwurf zum Sprichwort „Boni viri lacrimabiles“, gute Männer sind beweinenswert. Letzteres meint im Krieg gefallene Soldaten, während Goethes Kontrafaktur Teil eines Liebesschwures ist. Das Gedicht gehört zum Nachlass des vor zweihundert Jahren veröffentlichten Werks „West-östlicher Divan“.
So wie diese Zeile, so sei das gesamte Ensemble dieser umfangreichsten Gedichtsammlung Goethes aktueller denn je, sagt Anke Bosse, Literaturwissenschaftlerin an der Uni Klagenfurt und Leiterin des Robert-Musil-Instituts für Literaturforschung. „Goethes Zeitgenossen konnten mit dem ,Divan‘ nicht viel anfangen, denn er hatte die Chuzpe besessen, nicht die damalige Orientmode mit all diesen furchtbaren Klischees zu bedienen. Gerade nicht.“
Aber nicht nur der Inhalt, auch die Form und Konzeption des Gedichtbandes seien höchst modern. „Der ,Divan‘ ist kein Gedichtzyklus, sondern ein mobiles Ensemble. Das spricht uns heute an, weil es nichts Abgeschlossenes ist und man die zwölf Bücher mit über 240 Gedichten nicht nacheinander, sondern nach Lust und Laune lesen kann – damals irritierte das.“Der als 13. Buch angehängte Prosateil binde zudem die Leserinnen und Leser auf intelligente Art und Weise ein: „Man macht darin noch einmal eine kleine imaginäre Reise.“
Weil der Gedichtband 1819 so wenig Anklang gefunden hat, ist die Erstausgabe übrigens immer noch nicht vergriffen. „Dieses Ding in der Hand zu halten, ist schon besonders“, schwärmt Bosse. „Fantastische Kompositionen, unglaublich viel Raum für jedes Gedicht. Buchästhetisch ist die Erstausgabe großartig gelungen, es ist ein Fest, darin zu blättern.“Die Offenheit des „Divan“reicht aber noch weiter, wie zugehörige Gedichte aus dem Nachlass, etwa das eingangs erwähnte über das Weinen von Männern, zeigen. In einer späteren Werkausgabe ergänzte Goethe die Sammlung dann auch um 43 Gedichte. Das Kapitel „Künftiger Divan“mit Ideen zur Erweiterung, das schon in der Erstausgabe auf die Unabgeschlossenheit verweist, strich er deshalb jedoch nicht.
Bosse ist eine „West-östlicher Divan“-Koryphäe. Sie hat den Nachlass dazu – über 300 Manuskripte und 200 Reinschriften – erstmals aufgearbeitet, editiert, kommentiert und in eine entstehungsgeschichtliche Reihenfolge gebracht. „Es sind darin Goethes Orientstudien enthalten, die er mit seiner Entdeckung des persischen Dichters Hafis, der im 14. Jahrhundert lebte, begonnen hat.“Wenn man wissen will, wie Goethe dichtete, welche Quellen er verwendete und was der Auslöser für bestimmte Verse war, so ist Bosse die richtige Anlaufstelle. Zum 200-jährigen Jubiläum wurde die Komparatistin von gleich zwei Institutionen, dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und dem Freien Deutschen Hochstift (Frankfurter Goethe-Museum) eingeladen, jeweils eine Ausstellung zu kuratieren, in der sie auch einer breiten Öffentlichkeit genau das ermöglicht: einen ausführlichen Blick in Goethes poetische Werkstatt.
„Die Menschen sollen erleben, wie ein Gedicht entstanden ist“, erklärt Bosse. „Was ist fremd und von außen hineingeflossen, was ist Eigenpoetisches? Auf diesem Feld war Goethe ein Meister. Er hat mit seinen Gedichten im Grunde Hybride, so würden wir das heute nennen, hergestellt.“Im Frühjahr war die Ausstellung „Poetische Perlen“in Weimar zu sehen, aktuell noch bis 23. Oktober in Frankfurt (Begleitbuch „,Poetische Perlen‘ aus dem ,ungeheuren Stoff‘ des Orients“, Wallstein Verlag, 86 Seiten, 15,50 €). „Die Räumlichkeiten im Freien Deutschen Hochstift erlauben es, nicht nur Handschriften und Bücher zu zeigen, es gibt auch Projektionen und interaktive Angebote.“
Dass der „West-östliche Divan“jetzt noch einmal eine solche Karriere mache, liege nicht zuletzt an seinem Titel. „Der hat sich von dem Buch abgelöst und ist zu einem erfolgreichen Label geworden“, sagt Bosse. So gibt es etwa ein berühmtes Orchester (WestEastern Divan Orchestra), das sich für einen friedlichen Nahen Osten engagiert, und in Weimar ein Festival mit dem Namen. „Divan meint die Versammlung, in dem Fall von Gedichten, über die Kulturen hinweg – und genau das ist der Punkt, der heute fasziniert, die Menschen zusammenbringt.“Dahinter steht Goethes Idee einer Weltliteratur, die er nicht als Kanon begriff, sondern als freien geistigen Handelsverkehr im Sinne einer weltweiten literarischen Kommunikation.
Ein Publikum hat Goethe nicht nur in westlichen Ländern, sondern auch in denen des sogenannten Orients, wie persische und arabische Übersetzungen zeigen. Die west-östlichen Verbindungen, von denen er einst träumte, finden heute also tatsächlich statt. Einfach, weil geografisch-zeitliche Entfernungen keine große Rolle mehr spielen. „Wir sind heute besser auf Goethe und den , Divan‘ vorbereitet. Wir erleben selbst, wie kulturelle Unterschiede überwunden werden können und sich zu etwas Drittem, etwas Hybridem vermischen, weil wir uns viel freier in verschiedenen kulturellen Räumen bewegen.“
Im Herbst stellt Bosse ihre Ausstellung in digitaler Form im iranischen Schiras vor. „Schiras ist die Geburtsstadt von Hafis, der bei Goethe das Ganze überhaupt ausgelöst hat.“Zwilling nannte er seinen Jahrhunderte zuvor lebenden Dichterkollegen. Die Bewunderung liest sich bei Goethe dann so: „Hafis mit dir, mit dir allein will ich wetteifern!“und „Wie du zu lieben und zu trinken, das soll mein Stolz, mein Leben sein.“