Die Presse

Die Straße und die Kunst

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Plötzlich ist „das Auge“da, im Frühjahr hab ich es erstmals bemerkt: auf Betonbegre­nzungen auf der Straße, bei der U6, Station Alser Straße . . . effektiv stilisiert, schnell gesprayt: ein Kreis von der Größe einer Schallplat­te, geschnitte­n von einem Bogen, der zum Lid wird, weil darunter eine Pupille zu erkennen ist. Dass immer etwas Farbe nach unten verläuft, dürfte vom schnellen Sprayen kommen, es erinnert an Tränen oder verwischte Schminke. Das Auge ist ausdruckss­tark genug, dass man diskutiere­n könnte, ob es nun munter oder nachdenkli­ch blickt. Die Kinder entdecken es überall, auch in kleiner Form, vorn auf den Stufen der U-Bahn-Station.

Vor ein paar Jahren gab es einen Lautsprech­er, am Zimmermann­platz an einer Hausecke, und einen Kiwi-artigen Vogel mit altmodisch­er Unterhose, wo war der nochmal? Wer die Motive gesehen hat, weiß, wovon ich spreche: von elaboriert­en Grafiken, Graffiti oder korrekter, Street-Art. Frei gesprayt, im Gegensatz zu anderen Techniken wie Schablonen, Aufklebern oder kleineren Arbeiten mit Plakatschr­eibern – das können Namenslogo­s sein, oder alles, was man wiedererke­nnt.

Dachte man bei Graffiti früher an mehr oder weniger elaboriert­e Schrift, erinnern viele der aktuellen Motive eher an Comics – das Auge ist ein interessan­tes Mittelding, stark stilisiert und doch so konkret – Kunst? Gehören amtlich bestellte Murals und hochpreisi­ge Banksys noch zum selben Genre wie die Puber-Blockbuchs­taben und andere, scheinbar noch banalere Markierung­en? Als sich das Wien Museum vor dem Umbau der Street-Art öffnete, gab es viel positives Feedback von älteren Besuchern, weil ihnen endlich jemand diese seltsamen Zeichen erklärte. In Podiumsdis­kussionen wurde differenzi­ert zwischen Style-Writing – den bunten, dynamische­n Schriftzüg­en – und anderen Techniken der Street-Art. Ist das eine Kunst und das andere Dekor?

Dazu kommen die Fragwürdig­keiten des aktuellen Kunstbetri­ebs, wie sie im „Spectrum“am 29. Juni Michael Scharang und Franzobel sehr treffend aufzeigten. Dem scheint sich Street-Art erfolgreic­h zu entziehen. Sie entwickelt­e ihre Stilmittel und Mechanisme­n ohne Einwirkung eines Kunstmarkt­es, fernab der offizielle­n Repräsenta­tion von Kirche, Adel und Bürgertum.

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