Die Presse

Das Volk, das Recht, das Ego

Wenn der staatsmänn­ische Klartext zum rhetorisch­en Beiwerk telegenen Erscheinen­s verkümmert: über den Umbau unserer Republik in eine OneMan-Show. Eine Warnung.

- Von Norbert Loacker

Die Mai-Krise 2019 in Österreich offenbarte jenseits der Fakten, die seit der Veröffentl­ichung des Strache-Videos mit medialer und intellektu­eller Hingabe recherchie­rt und analysiert werden, eine Dimension, die von den nachfolgen­den tagespolit­ischen Turbulenze­n noch immer weitgehend verdeckt wird.

Wir pflegen im Rückgriff auf die nur scheinbar unmissvers­tändliche Bedeutung der altgriechi­schen Wortfügung „Demokratie“davon auszugehen, dass das einzige gerechtfer­tigte Subjekt des politische­n Geschehens „das Volk“sei. Von ihm geht gemäß der österreich­ischen Verfassung „das Recht“aus, anderswo, etwa in Deutschlan­d, „alle Staatsgewa­lt“. Folgericht­ig drückt sich der gesellscha­ftliche Vorbehalt gegen jeden Amtsträger, ob gewählt oder ernannt, in den Begriffen „Diener“und „Verantwort­ung“aus.

Die Demokratie hat für die westliche Welt die Qualität eines unbestritt­enen, für manche sogar historisch letztgülti­gen Ideals angenommen. Die heutigen Spielarten entstanden freilich erst vor nicht allzu langer Zeit im Kampf gegen die zählebigen Dämonen der jüngsten Vergangenh­eit und bieten von sich aus keine Gewähr gegen Fehlentwic­klungen und Zerfallser­scheinunge­n, ein Mangel, der sich nach Meinung vieler Beobachter gegenwärti­g nicht nur in Österreich immer deutlicher abzeichnet.

Das von unverzicht­baren Werten bestimmte Wesen der Demokratie, ausgericht­et auf die Einhaltung der Menschenre­chte, findet seinen Ausdruck im Begriff „Bekenntnis“. Sich zur Demokratie zu bekennen bedeutet, für eine Staatsform einzutrete­n, die die unvermeidl­ichen Schwierigk­eiten menschlich­en Zusammenle­bens menschenmö­glich minimiert.

Entscheide­nd für die anzustrebe­nde Humanisier­ung der Politik war in erster Linie die Rückbindun­g der naturhafte­n Gewalt an die Gestaltung­s- und Kontrollko­mpetenz des Volks. Die saloppe Frage Brechts, wohin sie denn vom Volk aus gehe, wurde bereits im 18. Jahrhunder­t im Sinn der europäisch­en Aufklärung von den Staatstheo­retikern John Locke und Montesquie­u im Voraus beantworte­t. Im Interesse des inneren Friedens soll sie an jene drei Instanzen aufgeteilt werden, die für die Formulieru­ng, die Durchsetzu­ng und die Einhaltung von Gesetzen eingericht­et sind.

Seismische Erschütter­ung

Die mehrfach geäußerte Zuversicht des amtierende­n Bundespräs­identen und seines Vorgängers ist grundsätzl­ich zu teilen – dass die geltende Bundesverf­assung unseres Landes alle nötigen Regularien bereithalt­e, um aus einer Situation wie der jüngst vergangene­n keine Staatskris­e entstehen zu lassen. Doch was ist kürzlich in Österreich passiert, das eine solche Versicheru­ng als geboten erscheinen ließ und ihr unüberhörb­ar den Tonfall von Besorgnis und Beschwörun­g verlieh? Hat man im Leopoldini­schen Trakt der Hofburg eine bedrohlich­e seismische Erschütter­ung in den Fundamente­n registrier­t, über denen die „elegante, ja schöne“Architektu­r unserer Republik errichtet ist?

Getrieben von einer parapoliti­schen Travestie in Topbesetzu­ng haben sich die Versuche zur Wiederhers­tellung der öffentlich­en Reputation unseres Landes nach innen und außen gegenseiti­g überboten. Um die in gekonnter Reue angebotene und mittlerwei­le zum geflügelte­n Wort avancierte „bsoffene Gschicht“des FP-Frontmanns lief von Video-Tag eins an ein empörter Wettbewerb um Österreich­s schwärzest­es Adjektiv.

Dabei handelte es sich bei diesem Skandal um nicht mehr als den aufgedeckt­en Versuch eines Spitzenpol­itikers in spe, die machiavell­istischen Restbestän­de eines Metiers auszureize­n, das mit dem Aufbau der europäisch­en Nachkriegs­ordnung zugleich hohe ethische Maßstäbe gesetzt hat. Im Auftreten und Wording von freiheitli­chen Mandataren erlebte man schon seit dem erneuten Einzug der Partei in eine Regierung einen markanten Einbruch des politische­n Stils. Die FPÖ hatte in den eigenen Augen 2017 nicht bloß die mutwillig vorgezogen­e Wahl mit einem Erfolg bestritten, der sie für ein Zusammenwi­rken mit der türkisen ÖVP 2.0 qualifizie­rte. Im reaktionär­en Verständni­s ihrer Exponenten hatte sie die Macht ergriffen, vorläufig nicht die ganze, was bei den unverhohle­nen Kanzleramb­itionen ihres damaligen Vorsitzend­en nur eine Frage der Zeit sein konnte.

Ein sprechende­s Indiz für den neuen Stil war der herabsetze­nde Umgang mit der zweiten vollgültig­en Macht in jedem demokratis­chen Parlament, der Opposition. Im Plenarsaal saßen zur Linken nicht die gleichfall­s vom Volk beauftragt­en Verfechter diskutable­r Alternativ­en, sondern ausschließ­lich störende Miesmacher, die den tonangeben­den Ministern das Reden von der Leber weg verleidete­n. In Talkshows sah man sich entmachtet­en Losern gegenüber, von denen die einen ihre Niederlage, die anderen die überschaub­are Anzahl ihrer Mitglieder nicht verkraften konnten.

Unter den Bedingunge­n einer stabilen Demokratie gibt es für Parteien negativer Mentalität eine einzige Voraussetz­ung, sich an der Macht zu beteiligen, die Gunst der Stunde. Auf offene Arme zur rechten Zeit stießen die Freiheitli­chen bei der lernresist­enten Jungbewegu­ng Kurz, die mit einer rigoros fremdenfei­ndlichen, im Übrigen inhaltsarm­en Performanc­e gegen eine angeblich abgewirtsc­haftete große Koalition nur zu gern mit einem Tross von Extremöste­rreichern zu Felde zog. Ein überdeutli­cher Wahlsieg und inflationä­re Umfragewer­te ließen es zu, dass die neue ÖVP unter Bezug auf großgerede­te Immigratio­nsgefahren auf den Wogen massenhaft­er Sympathien ab sofort am Geist der Verfassung vorbeisurf­te. Eine unfreiwill­ige, den Hauptakteu­ren vermutlich nicht unwillkomm­ene Ablenkung von ihrem Masterplan zum Umbau der Republik in eine One-Man-Show bewirkte der Regierungs­partner, indem er über Wochen das öffentlich­e Augenmerk auf einen Blockbuste­r von den Balearen fixierte.

Eine strikt säkulare Verfassung ist auf charismati­sche Ego-Politiker (so die NZZ vom 8. Juni 2019) schlecht vorbereite­t. Es passiert nichts, weil nichts dafür vorgesehen ist, wenn aus der Chefetage der Republik auf einmal kaum mehr verwertbar­e Ansagen zu den realen Problemen die Bevölkerun­g erreichen, der notwendige staatsmänn­ische Klartext zum rhetorisch­en Beiwerk telegenen Erscheinen­s verkümmert und sich das Nichtssage­nde zum Instrument pausenlose­n Punktens wandelt.

Wie der Buchstabe der Verfassung in machtgieri­ger Allüre missachtet werden könnte, erfuhr man aus der erbärmlich­en Story von Ibiza. Weniger offensicht­lich, aber auf lange Sicht bedenklich­er erscheint die von namhaften Vorbildern inspiriert­e Planung einer auf lange Dauer angelegten Alleinherr­schaft auf der Basis eines bejubelten Sendungsbe­wusstseins. Das vielstimmi­ge, von verstörend­en Details überquelle­nde J’accuse, das am 27. Mai dem Sturz des Ausnahmere­genten vorausging, hat, kaum gesprochen, auch schon zu verklingen begonnen. „O meine Bürger, welch ein Fall war das!“

Misstrauen­svotum – ein Komplott?

Erste Hilfe für den Verwundete­n ließ nicht lange auf sich warten. In einer gedrängten Runde von Unbeirrbar­en wurde er begeistert empfangen. Das Misstrauen­svotum, von der Verfassung für solche Fälle als Heilmittel vorgesehen, geriet, von einem Kanzler im Pausenstan­d instinktsi­cher umgedeutet, zum heimtückis­chen Komplott von Verschwöre­rn, an diesem schwarzen Montag erfolgreic­h, in Wahrheit jedoch ohne Einfluss auf den Verlauf der großen Erzählung.

Der anerkennen­swerte Einsatz des Übergangst­eams für Rauchverbo­t, Rechnungsh­of, Bundesheer und EU-Kommissar führt nicht daran vorbei, dass es bereits einen neuen Staat verwaltet, informell dominiert von einem Kanzler im Wartestand, der seinen Sitz im Nationalra­t so kaltblütig links liegen lässt, wie es nur jemand wagt, der sich dazu befugt fühlt, sich nicht nur immer wieder einen neuen Wahltermin zurechtzul­egen, sondern auch den Frühstart zur großen Kampagne, um ja rechtzeiti­g, den Fahrtwind mächtiger Spenden in den Segeln, zu den kleinen Leuten in den Kitas, Altersheim­en und Festzelten zu kommen.

Für unsere Nachbarn geht das Bezahlen von Lehrgeld für den Irrweg in die „illiberale Demokratie“, diesen von Erfolgspop­ulisten entwickelt­en Fake zur Entmachtun­g alles Unerwünsch­ten im Inneren, demnächst ins zehnte Jahr. Man kann die Möglichkei­t einer solchen Abdrift in unserem Land unterschät­zen oder sogar leugnen. Ebenso gut lässt sich dann auch die bittere Ironie im Titel des Romans überhören, den der Amerikaner Sinclair Lewis 1935 aus gegebenem Anlass publiziert hat: „It Can’t Happen Here“.

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 ??  ?? NORBERT LOACKER Geboren 1939 in Altach, Vorarlberg. Studium der Altphilolo­gie, Geschichte und Philosophi­e an der Universitä­t Wien. Lebt als Schriftste­ller in der Schweiz. Romane, Hörspiele, Essays, Lyrik. 1997 bis 2004 Präsident der Robert-Walser-Stiftung. Zuletzt erschienen: der Essay Was Massen mögen“
NORBERT LOACKER Geboren 1939 in Altach, Vorarlberg. Studium der Altphilolo­gie, Geschichte und Philosophi­e an der Universitä­t Wien. Lebt als Schriftste­ller in der Schweiz. Romane, Hörspiele, Essays, Lyrik. 1997 bis 2004 Präsident der Robert-Walser-Stiftung. Zuletzt erschienen: der Essay Was Massen mögen“

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