Das Volk, das Recht, das Ego
Wenn der staatsmännische Klartext zum rhetorischen Beiwerk telegenen Erscheinens verkümmert: über den Umbau unserer Republik in eine OneMan-Show. Eine Warnung.
Die Mai-Krise 2019 in Österreich offenbarte jenseits der Fakten, die seit der Veröffentlichung des Strache-Videos mit medialer und intellektueller Hingabe recherchiert und analysiert werden, eine Dimension, die von den nachfolgenden tagespolitischen Turbulenzen noch immer weitgehend verdeckt wird.
Wir pflegen im Rückgriff auf die nur scheinbar unmissverständliche Bedeutung der altgriechischen Wortfügung „Demokratie“davon auszugehen, dass das einzige gerechtfertigte Subjekt des politischen Geschehens „das Volk“sei. Von ihm geht gemäß der österreichischen Verfassung „das Recht“aus, anderswo, etwa in Deutschland, „alle Staatsgewalt“. Folgerichtig drückt sich der gesellschaftliche Vorbehalt gegen jeden Amtsträger, ob gewählt oder ernannt, in den Begriffen „Diener“und „Verantwortung“aus.
Die Demokratie hat für die westliche Welt die Qualität eines unbestrittenen, für manche sogar historisch letztgültigen Ideals angenommen. Die heutigen Spielarten entstanden freilich erst vor nicht allzu langer Zeit im Kampf gegen die zählebigen Dämonen der jüngsten Vergangenheit und bieten von sich aus keine Gewähr gegen Fehlentwicklungen und Zerfallserscheinungen, ein Mangel, der sich nach Meinung vieler Beobachter gegenwärtig nicht nur in Österreich immer deutlicher abzeichnet.
Das von unverzichtbaren Werten bestimmte Wesen der Demokratie, ausgerichtet auf die Einhaltung der Menschenrechte, findet seinen Ausdruck im Begriff „Bekenntnis“. Sich zur Demokratie zu bekennen bedeutet, für eine Staatsform einzutreten, die die unvermeidlichen Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens menschenmöglich minimiert.
Entscheidend für die anzustrebende Humanisierung der Politik war in erster Linie die Rückbindung der naturhaften Gewalt an die Gestaltungs- und Kontrollkompetenz des Volks. Die saloppe Frage Brechts, wohin sie denn vom Volk aus gehe, wurde bereits im 18. Jahrhundert im Sinn der europäischen Aufklärung von den Staatstheoretikern John Locke und Montesquieu im Voraus beantwortet. Im Interesse des inneren Friedens soll sie an jene drei Instanzen aufgeteilt werden, die für die Formulierung, die Durchsetzung und die Einhaltung von Gesetzen eingerichtet sind.
Seismische Erschütterung
Die mehrfach geäußerte Zuversicht des amtierenden Bundespräsidenten und seines Vorgängers ist grundsätzlich zu teilen – dass die geltende Bundesverfassung unseres Landes alle nötigen Regularien bereithalte, um aus einer Situation wie der jüngst vergangenen keine Staatskrise entstehen zu lassen. Doch was ist kürzlich in Österreich passiert, das eine solche Versicherung als geboten erscheinen ließ und ihr unüberhörbar den Tonfall von Besorgnis und Beschwörung verlieh? Hat man im Leopoldinischen Trakt der Hofburg eine bedrohliche seismische Erschütterung in den Fundamenten registriert, über denen die „elegante, ja schöne“Architektur unserer Republik errichtet ist?
Getrieben von einer parapolitischen Travestie in Topbesetzung haben sich die Versuche zur Wiederherstellung der öffentlichen Reputation unseres Landes nach innen und außen gegenseitig überboten. Um die in gekonnter Reue angebotene und mittlerweile zum geflügelten Wort avancierte „bsoffene Gschicht“des FP-Frontmanns lief von Video-Tag eins an ein empörter Wettbewerb um Österreichs schwärzestes Adjektiv.
Dabei handelte es sich bei diesem Skandal um nicht mehr als den aufgedeckten Versuch eines Spitzenpolitikers in spe, die machiavellistischen Restbestände eines Metiers auszureizen, das mit dem Aufbau der europäischen Nachkriegsordnung zugleich hohe ethische Maßstäbe gesetzt hat. Im Auftreten und Wording von freiheitlichen Mandataren erlebte man schon seit dem erneuten Einzug der Partei in eine Regierung einen markanten Einbruch des politischen Stils. Die FPÖ hatte in den eigenen Augen 2017 nicht bloß die mutwillig vorgezogene Wahl mit einem Erfolg bestritten, der sie für ein Zusammenwirken mit der türkisen ÖVP 2.0 qualifizierte. Im reaktionären Verständnis ihrer Exponenten hatte sie die Macht ergriffen, vorläufig nicht die ganze, was bei den unverhohlenen Kanzlerambitionen ihres damaligen Vorsitzenden nur eine Frage der Zeit sein konnte.
Ein sprechendes Indiz für den neuen Stil war der herabsetzende Umgang mit der zweiten vollgültigen Macht in jedem demokratischen Parlament, der Opposition. Im Plenarsaal saßen zur Linken nicht die gleichfalls vom Volk beauftragten Verfechter diskutabler Alternativen, sondern ausschließlich störende Miesmacher, die den tonangebenden Ministern das Reden von der Leber weg verleideten. In Talkshows sah man sich entmachteten Losern gegenüber, von denen die einen ihre Niederlage, die anderen die überschaubare Anzahl ihrer Mitglieder nicht verkraften konnten.
Unter den Bedingungen einer stabilen Demokratie gibt es für Parteien negativer Mentalität eine einzige Voraussetzung, sich an der Macht zu beteiligen, die Gunst der Stunde. Auf offene Arme zur rechten Zeit stießen die Freiheitlichen bei der lernresistenten Jungbewegung Kurz, die mit einer rigoros fremdenfeindlichen, im Übrigen inhaltsarmen Performance gegen eine angeblich abgewirtschaftete große Koalition nur zu gern mit einem Tross von Extremösterreichern zu Felde zog. Ein überdeutlicher Wahlsieg und inflationäre Umfragewerte ließen es zu, dass die neue ÖVP unter Bezug auf großgeredete Immigrationsgefahren auf den Wogen massenhafter Sympathien ab sofort am Geist der Verfassung vorbeisurfte. Eine unfreiwillige, den Hauptakteuren vermutlich nicht unwillkommene Ablenkung von ihrem Masterplan zum Umbau der Republik in eine One-Man-Show bewirkte der Regierungspartner, indem er über Wochen das öffentliche Augenmerk auf einen Blockbuster von den Balearen fixierte.
Eine strikt säkulare Verfassung ist auf charismatische Ego-Politiker (so die NZZ vom 8. Juni 2019) schlecht vorbereitet. Es passiert nichts, weil nichts dafür vorgesehen ist, wenn aus der Chefetage der Republik auf einmal kaum mehr verwertbare Ansagen zu den realen Problemen die Bevölkerung erreichen, der notwendige staatsmännische Klartext zum rhetorischen Beiwerk telegenen Erscheinens verkümmert und sich das Nichtssagende zum Instrument pausenlosen Punktens wandelt.
Wie der Buchstabe der Verfassung in machtgieriger Allüre missachtet werden könnte, erfuhr man aus der erbärmlichen Story von Ibiza. Weniger offensichtlich, aber auf lange Sicht bedenklicher erscheint die von namhaften Vorbildern inspirierte Planung einer auf lange Dauer angelegten Alleinherrschaft auf der Basis eines bejubelten Sendungsbewusstseins. Das vielstimmige, von verstörenden Details überquellende J’accuse, das am 27. Mai dem Sturz des Ausnahmeregenten vorausging, hat, kaum gesprochen, auch schon zu verklingen begonnen. „O meine Bürger, welch ein Fall war das!“
Misstrauensvotum – ein Komplott?
Erste Hilfe für den Verwundeten ließ nicht lange auf sich warten. In einer gedrängten Runde von Unbeirrbaren wurde er begeistert empfangen. Das Misstrauensvotum, von der Verfassung für solche Fälle als Heilmittel vorgesehen, geriet, von einem Kanzler im Pausenstand instinktsicher umgedeutet, zum heimtückischen Komplott von Verschwörern, an diesem schwarzen Montag erfolgreich, in Wahrheit jedoch ohne Einfluss auf den Verlauf der großen Erzählung.
Der anerkennenswerte Einsatz des Übergangsteams für Rauchverbot, Rechnungshof, Bundesheer und EU-Kommissar führt nicht daran vorbei, dass es bereits einen neuen Staat verwaltet, informell dominiert von einem Kanzler im Wartestand, der seinen Sitz im Nationalrat so kaltblütig links liegen lässt, wie es nur jemand wagt, der sich dazu befugt fühlt, sich nicht nur immer wieder einen neuen Wahltermin zurechtzulegen, sondern auch den Frühstart zur großen Kampagne, um ja rechtzeitig, den Fahrtwind mächtiger Spenden in den Segeln, zu den kleinen Leuten in den Kitas, Altersheimen und Festzelten zu kommen.
Für unsere Nachbarn geht das Bezahlen von Lehrgeld für den Irrweg in die „illiberale Demokratie“, diesen von Erfolgspopulisten entwickelten Fake zur Entmachtung alles Unerwünschten im Inneren, demnächst ins zehnte Jahr. Man kann die Möglichkeit einer solchen Abdrift in unserem Land unterschätzen oder sogar leugnen. Ebenso gut lässt sich dann auch die bittere Ironie im Titel des Romans überhören, den der Amerikaner Sinclair Lewis 1935 aus gegebenem Anlass publiziert hat: „It Can’t Happen Here“.