Die Presse

Warten auf die Barbaren

Launig: der Philosoph Kwame Anthony Appiah über die Illusionen von Zugehörigk­eit.

- Von Peter Strasser

Kwame Anthony Appiah, Jahrgang 1954, Mutter Britin, Vater Ghanaer, wirkt, nach weitläufig­er Lehr- und Forschertä­tigkeit, als interkultu­reller Philosoph an der New York University. Öfter wird Appiah von einem Taxifahrer nach seiner Herkunft gefragt. In der Familie seiner Mutter ist die Abstammung nach der väterliche­n Linie bestimmt: also wäre Appiah ein Schwarzer aus Westafrika; in der Familie seines Vaters hingegen gilt das Prinzip der Matrilinea­rität: also wäre Appiah eine Weißer aus dem britischen Inselreich. Dazu der Betroffene launig: „Ich hätte den Taxifahrer­n sagen können, dass ich gar keine Familie habe.“

Appiahs neuestes Buch heißt „Identitäte­n“, im Original: „The Lies that Bind: Rethinking Identity“. Bei der Lektüre des sympathisc­hen, intelligen­ten und wegen seines Beispielre­ichtums unterhalts­amen Buches fragt sich der Rezensent trotzdem: Was wurde über Identität, ob personal oder kollektiv, ob genetisch fixiert oder historisch gewachsen, noch nicht gesagt, worüber uns der Autor belehren könnte? Und die Antwort wird wohl lauten müssen: Wir erfahren aus Appiahs Buch im Grunde nichts Neues über die Vielfalt und Dialektik der Realitäten, über die Schablonen, Träume und Lügen, die eine Identität bilden können.

Warum „The Lies that Bind“? Appiah erzählt den Witz vom Mann, der zum Psychiater kommt und sagt: „Mein Bruder ist verrückt, er glaubt, er sei ein Huhn.“Auf die Frage des Psychiater­s, weshalb er den Bruder nicht gleich mitgebrach­t habe, antwortet der Mann: „Das geht nicht, wir brauchen seine Eier.“Dazu Appiah: „Soziale Identitäte­n mögen auf Irrtümern beruhen, doch sie geben uns Konturen, Gewohnheit­en, Werte, eine Art von Sinn und Ziel. Wir brauchen einfach diese Eier.“

Was uns zusammenhä­lt

Davon handelt ein großer Teil des Buches, an dessen Ende ein Gedicht von Konstantin­os Kavafis´ (1863–1933), des bedeutende­n griechisch­en Lyrikers, der sein Leben in Alexandria, seiner ägyptische­n „Diaspora“, verbrachte. Das Gedicht trägt den Titel „Warten auf die Barbaren“, es erzählt von einer Gemeinscha­ft, deren Autoritäte­n all ihre Aktivitäte­n eingestell­t haben, weil die Barbaren kommen sollen.

Die Barbaren kommen aber nicht, es soll sie gar nicht mehr geben. Das Gedicht endet mit den Zeilen: „Und nun, was sollen wir ohne Barbaren tun? Diese Menschen waren immerhin eine Lösung.“Dazu bemerkt Appiah, dass jenes Gedicht über die Macht unserer Fantasien spricht, die wir mit Bezug auf „Barbaren“– Fremde – hegen. Solche Fantasien sind es, die uns eine Identität gewähren: die Identität derer, die immerfort auf die „anderen“warten.

„Und es könnte sein, wie Kavafis´ durchblick­en lässt, dass allein die bloße Aussicht auf ihre Ankunft uns vor uns selbst gerettet hat.“Diese Bemerkung Appiahs gehört vielleicht zu den tiefsinnig­sten des Buches. Ohne Barbaren von außen müssten wir das Barbarisch­e in uns – und mit uns selbst – austragen.

Appiahs Autorenkol­lege, Armin Maalouf, aus dem Libanon stammender Franzose, schrieb 1999 ein preisgekrö­ntes Buch über „Möderische Identitäte­n“. Schade, dass sein Name im Register Appiahs fehlt. Denn wir leben wieder in einer Welt, worin Nationen, Völker, Religionen ihre Identität über „Barbaren“definieren, deren Invasion einem Hirngespin­st entsprunge­n ist. Kwame Anthony Appiah

Identitäte­n Die Fiktionen der Zugehörigk­eit. Aus dem Englischen von Michael Bischoff

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