„Ich bin nur eine Frau“
Welch eine Welle weht von ihr zu mir, von mir zu ihr“, schrieb die junge Marina Zwetajewa in ihr Tagebuch, einen Gedichtband von Jewdokija Rostoptschina in Händen haltend. Die Stimme der großen russischen Lyrikerin des 20. Jahrhunderts verhallt ungehört, Rostoptschinas Name ist schon vor der Oktoberrevolution aus der russischen Literaturgeschichte getilgt. Dabei war die 1811 als Jewdokija Petrowna Suschkina in Moskau geborene Dichterin von ihren Zeitgenossen, allesamt Dichterkollegen, in ihrer Bedeutung durchaus erkannt worden. Zeitgenössische Stimmen zeigten sich „fasziniert von der Brillanz ihres Geistes, der aus ihrer Rede wie ein unerschöpflicher Quell hervorsprudelte“, in ihren Werken sah man „Glanzstücke, fähig den Ruhm eines jeden, auch barttragenden Dichters zu begründen.“
Das Werk von Jewdokija Rostoptschina umfasst Gedichte, Prosa und Dramen, die ihren Weg auch auf die Bühne fanden. 1831 wurde ein Gedicht der knapp 20-Jährigen, „Der Talisman“, in einer angesehenen Literaturzeitschrift anonym veröffentlicht. Als ihre Urheberschaft durchsickerte, zeigte sich ihre hochadelige Familie empört: Dass eine unverheiratete Frau Gedichte veröffentlichte, empfand man in ihren Kreisen als ungebührlich. Die Hochzeit mit einem der reichsten Erben Russlands, Graf Andrej Rostoptschin, war der Beginn einer wenig glücklichen Ehe, gab ihr jedoch die Freiheit zu publizieren. In der ländlichen Abgeschiedenheit auf den Landgütern ihres Mannes entstanden Novellen und Elegien, in denen die lebenshungrige junge Frau auch die Erfahrung von Einsamkeit fernab von jeglicher gesellschaftlicher Zerstreuung verarbeitete: „Und ich bin eine Frau mit meiner ganzen Seele / und mächtig stolz darauf, darin ist all mein Glück, / ich bin nur eine Frau – in allem, was ich wähle – / und liebe Tanzbälle . . . Ach gebt sie mir zurück!“
In ihrer Poetik ging es Jewdokija Rostoptschina darum, ihr Denken und Empfinden als Frau auszudrücken. Ihr weibliches Selbstbewusstsein erscheint mit dem Blick zurück in die Geschichte der Emanzipation bemerkenswert: Mit größter Unbekümmertheit begegnete sie den bedeutendsten Dichtern ihrer Zeit auf Augenhöhe. Ab 1837 lebte sie mit ihrer Familie in Sankt Petersburg und fand dort Zutritt zu den elitären Kreisen der russischen Literatur des Goldenen Zeitalters, der nur wenigen Frauen vorbehalten blieb. Alexander Puschkin, im Ranking der russischen Literaturgeschichte mit Goethe und Shakespeare vergleichbar, war von ihrem Talent ebenso angezogen wie von ihrer Schönheit und Ausstrahlung, noch am Vorabend vor seinem tödlichen Duell speiste er bei ihr. Von Wassilij Schukowskij wurde ihr aus Puschkins Nachlass ein Heft mit der Aufforderung weitergereicht, es mit eigenen Gedichten zu befüllen. Mit Michail Lermontow, dem bedeutendsten Dichter der russischen Romantik, verband sie ebenfalls eine geistige und poetische Freundschaft, auch mit ihm stand sie unmittelbar vor dessen frühem Tod im Duell im intensiven Austausch. In seinem Gedicht „An die Gräfin Rostoptschina“spricht er von Dichter zu Dichter: „Unter demselben Stern geboren / und wandelnd auf derselben Bahn, haben wir zwei heraufbeschworen / denselben Traum, denselben Wahn.“Zu seiner Auswahl ihrer Lyrik hat Alexander Nitzberg drei Widmungsgedichte Lermontows an sie hinzugefügt.
Das Kernstück des Bandes bildet das erstmals auf Deutsch vorliegende, 1849 verfasste Versdrama „Die Menschenfeindin“. Man könnte in dem von Rostoptschina erschaffenen weiblichen Typus in Gestalt der Gutsherrin Zoe ein Gegenstück zum Dandy nach dem Modell der populären byronschen Helden sehen. Allerdings ist der Begriff „Dandy“missverständlich: Anders als
QPuschkins Eugen Onegin, der in Frauen Hoffnungen weckt, ohne sie zu erfüllen, liegt der Unnahbarkeit der „Menschenfeindin“nicht Bindungsunfähigkeit zugrunde, sondern enttäuschte Liebe, Verrat, und die Erfahrung, im höfischen Leben das Opfer von Intrigen geworden zu sein. Sie antwortet mit dem Rückzug von der Gesellschaft auf ihr Landgut, ihren Untergebenen gegenüber, den Menschen aus dem Volk, verantwortungsvoll, ja zugetan, für die um sie werbenden Kavaliere eine uneinnehmbare Festung mitten im Wald, eine treffende Metapher im literarischen Inventar der Romantik.
Was man leichthin für romantische Ironie halten könnte, ist weiblicher Esprit und Scharfsinn gepaart mit bitterem Sarkasmus, der Männer auf Abstand hält, und wenn diese an ihr verzweifeln, dann, weil sie der Überlegenheit einer Frau an Geist und Charakter nicht gewachsen sind. Das Thema ist die Würde der Frau und die Rebellion dagegen, zum Objekt degradiert zu werden. In ihren eigenen Worten ging es ihr darum, „einen starken und leidenschaftlichen, aber gutherzigen und gerechten Charakter (zu) entwerfen; eine Frau, geschunden, aber ungebrochen; eine Frau, noch voll von Mitleid, Wärme, Leben, Poesie, aber eine, die erwacht ist und die Welt durchschaut hat.“
In diesem Spätwerk der Dichterin deutet sich der nun folgende Bruch in ihrem Leben an: Am Zarenhof fiel sie in Ungnade, als sie 1846 ein politisch brisantes Gedicht veröffentlicht hatte, das die Unterdrückung Polens durch Russland in verschlüsselter Metaphorik beschrieb. Der Glorienschein der bewunderten Dissidentin währte nur kurz, in den letzten Jahren ihres Lebens verlor sie den Anschluss an den Zeitgeist, der die Zukunft der Literatur in einem neuen Realismus sah, zugleich wurde sie zum Opfer der ideologischen Grabenkämpfe, die innerhalb der russischen Intelligenzija zwischen den konservativen Slawophilen und den progressiven Westlern ausgetragen wurden.
Als schreibende Aristokratin war Rostoptschina eine willkommene Zielscheibe der sozialrevolutionären Literaturkritik, zu deren Agitatoren jene gehören, die sie einst selbst gefördert und finanziell unterstützt hatte. Man verunglimpfte sie als Salondichterin, griff sie als Frau an und verfolgte sie in einer von Häme angetriebenen publizistischen Hetzjagd bis ans Totenbett. 1858 starb sie mit nur 47 Jahren an Krebs. Die Lebensgeschichte von Jewdokija Rostoptschina erzählt in tragischer Weise davon, dass die Zeit über ein großes Talent hinwegzugehen vermochte, noch ehe sie für diese schreibende Frau hätte anbrechen können.