Piketty reitet wieder gegen die Reichen
In „Capital et ideologie“´ fordert der aktuell einflussreichste aller Ökonomen die Enteignung der Milliardäre. Was taugt der sichere Bestseller?
Karl Gaulhofer hat das neue Buch des umstrittenen Ökonomen gelesen.
Das muss diesem Thomas Piketty erst einmal jemand nachmachen: zweieinhalb Millionen Exemplare verkaufen, von einem sperrigen, monumentalen Traktat voller Zahlen und Statistiken. Seit 2013 ziert „Das Kapital im 21. Jahrhundert“in 40 Sprachen die Bücherregale der bildungsbürgerlichen Linken. Wobei viele nicht weit über den Kaufakt hinausgekommen sind. Beim E-Book-Reader Kindle haben sie ermittelt: Im Schnitt brachen die Leser auf Seite 26 ab. Das macht einer der meistgekauften Bücher zugleich zu einem der am wenigsten gelesenen. Was soll’s, jetzt gibt es Nachschlag: Piketty hat für seine Frohund Drohbotschaft eine Fortsetzung geschrieben, wieder über 1000 Seiten lang. Vor einer Woche ist „Capital et ideologie“´ im Original erschienen, die deutsche Ausgabe folgt im März.
Der Servicetipp für Superreiche vorweg: Verlassen Sie diesen Planeten! (Vielleicht hat Elon Musk es schon geahnt und investiert deshalb so viel in private Weltraumfahrt.) Piketty will Milliardäre zu 90 Prozent enteignen, weltweit, in einer koordinierten Aktion. Es darf künftig keine mehr geben. Er sagt nun auch offen, dass wir den Kapitalismus „überwinden“müssen. Das Vermögen sei in großem Stil umzuverteilen. Jeder 25-Jährige in Industriestaaten soll 120.000 Euro „erben“. Besitz gibt es in dieser sehr konkreten Utopie nur noch begrenzt oder temporär, in den Unternehmen haben die Mitarbeiter so viel zu sagen wie die Manager. Über Anpassungsprobleme wie einen Zusammenbruch der Immobilien- und Aktienmärkte zerbricht sich der Visionär nicht den Kopf. Es gilt, den Weg zu weisen – und dies zu begründen.
Sozialgeschichte statt VWL
Dazu nimmt der Autor den Hut des Ökonomen ab und setzt den des Sozialhistorikers auf. Vielleicht hat ihn ja der Dauerbeschuss seiner ikonischen Formel r>g zermürbt. Jedenfalls reitet er nicht mehr darauf rum, dass die Kapitalrendite immer höher sei als das Wirtschaftswachstum, besitzen sich also mehr lohne als arbeiten – was zwangsläufig zur Revolution führt, wenn der Fiskus nicht einschreitet. Stattdessen will er nun jede Rechtfertigung für Ungleichheit als Ideologie entlarven – in allen Kulturen. Das macht den historischen Teil der Untersuchung zur lehrreichen Welt- und Zeitreise.
Das ganze Buch liest sich, trotz vieler Längen, besser und leichter als der frühere Bestseller. Unglaublich, was Piketty an Material zutage fördert, oft aus bisher unzugänglichen Quellen. Der Ansatz ist psychologisch schlau. Es muss uns Leser schockieren, wie früher das himmelschreiendste Unrecht, ob Sklaverei, koloniale Ausbeutung oder Fronarbeit auf feudalen Latifundien, als gottgewollte soziale Ordnung verkauft wurde: Jeder habe dort seine Funktion, nur so füge sich alles zum harmonischen Ganzen, sonst drohe das Chaos.
Aber ist wirklich jede Rechtfertigung von Ungleichheit gleich schlecht? Unsere Gesellschaften verstehen sich als meritokratisch: Jeder soll gleiche Chancen haben, über das Ergebnis entscheiden Fleiß und Fähigkeit. Auch wenn die soziale Mobilität eine Baustelle bleibt, erscheint es doch grob polemisch, dieses Prinzip als „heimtückische meritokratische Heuchelei“in einen Topf mit der Ideologie von Sklavenhalterstaaten zu werfen. Für Piketty sind wir sogar schlimmer dran: Früher habe man die Armen wenigstens bemitleidet, heute werfe man ihnen vor, sie seien an ihrer Misere selbst schuld.
Da hat er einen Punkt. Aber werden Reiche unkritisch abgefeiert? Offenbar liest der Pariser Professor zu viele Businessmagazine und sieht zu wenig Fernsehkrimis, in denen der Böse fast immer der Unternehmer ist. Zu kurz Gekommene erheben sich moralisch über die Mächtigen: Das funktioniert wie zu Nietzsches Zeiten. Auch die Strahlemänner aus dem Silicon Valley stehen längst als Datendiebe und Steuersünder am Pranger. Und dass russische Oligarchen oder saudische Ölscheichs gute Gründe für steigende Ungleichheit liefern, hat auch kein liberaler Ökonom jemals behauptet.
Entscheidend ist, was fehlt
Pikettys ökonomisches Argument steht auf wackeligen Beinen: Die Volkswirtschaften, in denen die Ungleichheit seit den 1980er-Jahren am stärksten gestiegen ist, seien nicht die erfolgreichsten; die egalitäreren Jahrzehnte davor hatten eine stärkere Dynamik. Damit greift er einen möglichen Faktor willkürlich heraus (war nicht der größte Gleichmacher der Krieg, der größte Wachstumsmotor der Wiederaufbau?). Sicher taugt Ungleichheit nicht als Werkzeug für mehr Wachstum. Aber sie ist eine Nebenwirkung, ohne die unternehmerische Initiative und Innovation schwer zu haben sind – beides Begriffe, die in Pikettys seltsam statischer Wirtschaftswelt praktisch nicht vorkommen.
Das Wesentliche blendet er aus: dass der Kapitalismus der vergangenen 200 Jahre, im Verein mit dem von ihm mit entfesselten technischen Fortschritt, der Ungleichheit in Europa den Stachel gezogen hat. In feudalen Zeiten lebte eine kleine Geldelite in obszönem Prunk, während die Bauern an Hunger starben. Heute kleiden sich breiteste Schichten besser ein als die zu immensem Reichtum gelangten kalifornischen IT-Nerds. Auch dass Normalbürger im Linienflugzeug statt im Privatjet auf Urlaub fliegen müssen, ist für die meisten kein Grund, die Faust zu ballen. Zustande gebracht hat diese weitgehende Nivellierung der Konsummöglichkeiten eine historisch einmalige Steigerung der Produktivität. Die Erfahrung zeigte: Mit Privateigentum ist das möglich, in Kollektivsystemen nicht.
Auch Piketty muss zugeben, dass privater Besitz und Unternehmertum in kleinen Dosen nicht des Teufels sind. Aber wo kippt das Gute ins Böse? Seine Grenzziehung, die sich aus den vorgeschlagenen Steuersätzen ablesen lässt, kann nur willkürlich sein. Dabei wäre die tatsächlich immer bedenklichere Konzentration bei den obersten 0,1 Prozent auch ohne manichäisches Weltbild im Prinzip einfach zu lösen: durch die Zerschlagung der neuen Form von Netzwerkmonopolen in den USA und mehr Rechtsstaatlichkeit in Schwellenländern zur Bekämpfung von Korruption und Nepotismus. Nur das zu fordern, wäre freilich weniger prickelnd gewesen, weil es keinen Anlass zu radikaler Kapitalismuskritik gibt.
Stattdessen macht Piketty Mut zu seinen kühnen Plänen. Die hätten schon früher funktioniert. Der Forscher schwärmt von knackigen Steuersätzen, die in den USA und Großbritannien vom Ersten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahren galten. Aber er verrät nicht, wie hoch der Beitrag dieser Reichensteuern zum Gesamtaufkommen war.
Sonst kommen die Rechten
Oder wie niedrig – denn vermutlich ließen sich die Betroffenen nicht einfach enteignen (außer im Krieg, aber den wünschen wir uns ja nicht zurück). Aus österreichischer Sicht leichter zu relativieren ist ein anderes Loblied: Betriebsräte im Aufsichtsrat haben an den Machtverhältnissen nichts grundlegend geändert. Aber das weiß man eben in Frankreich nicht.
Was passiert, wenn die Menschheit den Ratschlägen nicht folgt? Erraten: Dann übernehmen autoritär gesinnte Rechtspopulisten das Ruder, denn sie ernten die Früchte des Zorns über wachsende Ungleichheit. Dass auch Piketty in diesen lautstarken Chor einstimmt, macht die Botschaft nicht weniger falsch. Die empirische Sozialforschung hat oft genug nachgewiesen: Nicht ökonomische Ängste treiben den Rechtsaußenparteien das Gros ihrer Wähler zu, sondern kulturelle Ressentiments.
So erweist sich Pikettys Werk als auf luxuriöse Weise misslungen: Er präsentiert eine imponierende Fülle an Material – und zieht dann daraus höchst fragwürdige Schlüsse. So etwas nennt man Ideologie. Aber auch aus ihr wird er wohl viel Kapital schlagen.