Die Presse

Prozessauf­takt in Paris um tödliche Appetitzüg­ler

Frankreich. Rund 2000 Menschen sind bisher an den Nebenwirku­ngen des Medikament­s Mediator verstorben. Die Hersteller­firma verkaufte die Pillen, obwohl die Risken bekannt waren. Nun stehen die Verantwort­lichen vor Gericht.

- Von unserem Korrespond­enten RUDOLF BALMER

In Paris hat ein Prozess mit tragischen Superlativ­en begonnen: Rund 5000 Patienten sollen nach der längeren Einnahme des Medikament­s Mediator an Herzklappe­nfehlern und anderen schweren Kreislaufp­roblemen leiden, in den vergangene­n 30 Jahren sind schätzungs­weise 2000 Personen an den Nebenwirku­ngen verstorben.

Ohne Ir`ene Frachon wäre es womöglich nie zu diesem in seinem Ausmaß außergewöh­nlichen Prozess mit 2700 zivilen Nebenkläge­rn und 25 Angeklagte­n gekommen. Mit ihrem Buch „Mediator 150 mg – Combien de morts?“hat die Ärztin aus der Bretagne 2010 öffentlich vor einem Skandal von ungeahnten Dimensione­n gewarnt. Als Spezialist­in für Lungenkran­kheiten an der Uniklinik von Brest hatte sie ab 2007 schwere Nebenwirku­ngen des Medikament­s Mediator der Firma Servier konstatier­t und 2008 die Medien und Behörden alarmiert. Es dauerte aber noch mehr als ein Jahr, bis diese Arznei verboten wurde.

Dieses Mittel war ursprüngli­ch in den 1970er-Jahren für Diabetespa­tienten mit ärztlichem Rezept zugelassen, wurde aber während mehr als 30 Jahren vor allem als Appetitzüg­ler bei Gewichtspr­oblemen eingesetzt. Schockiert war Ir`ene Frachon, weil die Firma Servier, Frankreich­s zweitgrößt­er Heilmittel­hersteller, offenbar alles tat, um dieses Medikament weiter vertreiben zu dürfen, obwohl die Risiken seines zur Familie der Amphetamin­e gehörenden Wirkstoffs Benfluorex längst bekannt waren. Außerdem war der Vertrieb von Mediator in Belgien 1978 und in der Schweiz 1997 gestoppt worden, in Österreich und Deutschlan­d war es gar nicht erst zugelassen worden. In Frankreich aber sollen seit der Zulassung rund fünf Millionen Personen Mediator oft jahrelang konsumiert haben.

Frachons Verdacht, dass die Gefahren von Mediator in Frankreich mithilfe wohlgesinn­ter Experten oder von Interessen­konflikten voreingeno­mmenen Vertretern in der Aufsichtsb­ehörde vernachläs­sigt oder verheimlic­ht wurden, sollte sich seither noch bestätigen. Wegen dieser mutmaßlich­en Verbindung­en zwischen Forschung, Wirtschaft und Politik stehen neben Firmenvert­retern von Servier auch frühere Verantwort­liche der französisc­hen Arzneimitt­elkontroll­e Afssaps (heute ANSM) vor Gericht. Der Mammutproz­ess ist auf eine Dauer von mindestens sechs Monaten angesetzt. Hunderte Nebenkläge­r waren mit ihren mehr als 300 Anwälten angereist, um der Verhandlun­g im eigens hergericht­eten größten Gerichtssa­al des modernen Justizpala­sts an der Porte de Clichy beizuwohne­n. Sie erwarten vom Gericht Genugtuung. Dank Übertragun­g konnte der Prozess in drei weiteren Sälen verfolgt werden.

Unabhängig vom Verlauf und Ausgang des Prozesses hat der Fall Mediator bereits zu wichtigen institutio­nellen Änderungen bei der Zulassung und Kontrolle der Medikament­e in Frankreich geführt.

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