Millionenstrafen für Formfehler sind zu viel
Kumulationsprinzip. Nachdem der Gerichtshof der EU verboten hat, vier Andritz-Manager wegen Verstöße gegen Formvorschriften mit sehr hohen Strafen zu belegen, müssen viele Sanktionen im Verwaltungsrecht hinterfragt werden.
Luxemburg/Wien. Hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) das Ende des ungeliebten Kumulationsprinzips eingeläutet? Jenes Grundsatzes also, wonach mehrfache gleichartige Verstöße gegen das Verwaltungsstrafrecht nicht mit nur einer Strafe geahndet werden, sondern mit addierten Strafen für jeden einzelnen Verstoß? Diese Frage wird unter Juristen heftig diskutiert, seit der Gerichtshof in Luxemburg exorbitante Geldstrafen gegen vier Manager des Maschinenbauers Andritz für unzulässig erklärt hat.
Neun Jahre Ersatzhaft drohte
Die Strafen hatten es wirklich in sich: Jeder der vier sollte fünf Mio. Euro zahlen. Sie hatten zu verantworten, dass bei Reparaturarbeiten an einer Kesselanlage 200 kroatische, serbische und bosnische Arbeitskräfte eingesetzt wurden, ohne dass die erforderlichen Beschäftigungsbewilligungen eingeholt und die Lohnunterlagen an Ort und Stelle bereitgehalten worden wären. Wie üblich sollten die Strafen in Ersatzhaft verwandelt werden, falls ein Missetäter sie nicht bezahlen könnte. Das hätte 3336 Tage ergeben, mehr als neun Jahre. Zum Drüberstreuen sollte auch noch ein Verfahrenskostenbeitrag von 20% der Strafen hinzukommen, also jeweils noch eine Million Euro. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Manager mit ihren Beschwerden beim Landesverwaltungsgericht Steiermark unterliegen sollten.
So weit kam es dann aber doch nicht. Denn das Verwaltungsgericht zögerte und schaltete den EuGH mit der Frage ein, ob die horrenden Strafen mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar waren – Andritz hatte nämlich kroatische Unternehmen mit den Arbeiten beauftragt. Die Skepsis des Verwaltungsgerichts rührte daher, dass die Strafen, ausgehend von einem gesetzlichen Mindestbetrag, nach dem besagten Kumulationsprinzip für jeden der 200 Beschäftigten zu verhängen waren.
Prompt sah der EuGH die Dienstleistungsfreiheit verletzt: Nach seinem Urteil (C-64/18 und andere) dürfen für die Verletzung arbeitsrechtlicher Pflichten, die das Einholen von Genehmigungen und das Bereithalten von Lohnunterlagen betreffen, keine Strafen vorgesehen sein, die
I eine gesetzliche Untergrenze nicht unterschreiten dürfen,
I für jeden Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung verhängt werden,
I zu denen bei einer erfolglosen Beschwerde 20% Verfahrenskosten hinzukommen und I die bei Uneinbringlichkeit in Haftstrafen umgewandelt werden.
Für die Andritz-Manager steht damit fest: Auf ihre Fälle sind die geprüften Bestimmungen nicht anzuwenden; das EU-Recht geht vor, sie brauchen nichts zu zahlen.
Aber was bedeutet das Urteil für die vielen anderen Vorschriften im Verwaltungsstrafrecht, welche die Kriterien Untergrenze/Kumulation/Verfahrenskosten/Ersatzfreiheitsstrafe erfüllen – und die überdies zumindest potenziell grenzüberschreitende Fälle betreffen oder EU-Recht direkt umsetzen?
Fabian Maschke, Rechtsanwalt in Wien und am Verfahren nicht beteiligt, vertritt dazu einen extremen Standpunkt. Seiner Meinung nach gelten die EuGH-Aussagen praktisch für alle Verwaltungsstrafbestimmungen, ausgenommen nur jene, die keine Strafuntergrenze enthalten (z. B. Falschparken). „Das Kumulationsprinzip ist allgegenwärtig“, sagt Maschke zur „Presse“. Neben der Straßenverkehrsordnung (bei schwereren Delikten) oder der Gewerbeordnung nennt er als Beispiel das Glücksspielgesetz, dessen Strafbestimmungen laut Verfassungsgerichtshof eben jenen Vorschriften nachgebildet seien, die der EuGH zu prüfen hatte. Maschke meint, dass Behörden und Gerichte ab sofort die problematisierten Strafen nicht mehr aussprechen dürften (ohne dass deshalb die betreffenden Handlungen rechtmäßig würden).
Unrechtsgehalt der Tat zählt
Anwalt Christian F. Schneider, der an der Uni Wien öffentliches Recht lehrt, sieht die Sache enger. Seiner Meinung nach kommt es auf den Unrechtsgehalt der jeweiligen Tat an: Nicht von ungefähr hat der EuGH betont, dass die massiven Strafen für bloße Formfehler verhängt worden seien. Aber auch die Strafhöhe sei zu bedenken: Wer etwa Auto fährt, ohne seinen Führerschein mitzuführen, und sich dabei (eher irreal) 100 Mal erwischen lässt, müsste mindestens 100 Mal 36 Euro zahlen. An 3600 Euro würde sich der EuGH hier aber vermutlich nicht stoßen.
Schneider zufolge ist das Kumulationsprinzip immer nur dann unzulässig, wenn es zu unverhältnismäßigen Ergebnissen führt. Das geltende Recht biete bereits Möglichkeiten, die Gesetze EU-konform auszulegen – etwa dank des Grundsatzes Beraten statt Strafen, der 2018 besonders für fortgesetzte Delikte und Dauerdelikte Eingang ins Gesetz gefunden hat.
Noch sauberer wäre es aber auch für Schneider, das Kumulationsprinzip abzuschaffen und durch das Absorptionsprinzip (wie im gerichtlichen Strafrecht) zu ersetzen. Nach diesem ist immer nur eine Strafe im Rahmen des jeweiligen Strafrahmens zu verhängen, wiederholte Delikte oder mehrere nebeneinander sind nur als Erschwerungsgrund zu werten.