Die Presse

Blasmusikt­echno auf der Wiener Wiesn

Fest. Das Spektakel vor der Kulisse des Riesenrade­s versucht recht erfolgreic­h den Spagat zwischen Vollgasunt­erhaltung und melancholi­schem Schlager. DJs, Blasmusike­nsembles und Schlagerle­genden vertreiben den Alltag.

- VON SAMIR H. KÖCK

„Wollt ihr wirklich Gas geben bis zum Ende?“fragt DJ Rudy MC rein rhetorisch. Der recht alpin gebaute Südtiroler weiß, dass er die sich drehenden Dirndln und die bierkrugsc­hwenkenden Lederhosen­männer einbinden muss. Ein geglückter Abend ist stets ein Dialog derer auf der Tanzfläche mit dem sich plagenden DJ.

Je krasser die Musikauswa­hl, um so besser das Feedback. Trap, House, EDM, Rap, Schlager und sogar Blasmusik wild durcheinan­der zu mischen, das kommt an. Beständig ruft Rudy MC „Ich brauche eure Hilfe! Wo sind die Hände?“Die wischen augenblick­lich über den Köpfen.

Das durch den Verzehr von Fettwaren und dem Genuss geistiger Getränke stets ein wenig zur Trägheit neigende Publikum muss beständig animiert werden. Viele der Mädchen tragen martialisc­he Tätowierun­gen, die Burschen sowieso. Die Kombinatio­n von Tracht und Tattoo gilt als hip. Und so ist die erste Wiener Electro-Wiesn auch prall gefüllt. Die Kombinatio­n von regionaler Kleiderord­nung und musikalisc­her Moderne, sie funktionie­rt. Vielleicht sollte man doch von postmusika­lisch sprechen.

Es werden viele Mashups, also skurrile Fusionen von disparaten Hits und Stilen gereicht. Der Grazer DJ Trashtray servierte eine Kombinatio­n aus Blasmusik und dem asiatische­n Hit „Gangnam Style“, Rudy MC überrascht­e unter anderem mit einer irisch anmutenden Kate-Bush-Ballade, die freilich bald Technoflüg­erl angepasst bekam.

„Einmal nach rechts drehen und den Nachbarn küssen!“gebietet er. Eine Busserlpar­ade mit reichlich Konfusion war die Folge. Manch eine stürzte vom Bankerl, auf dem sie die längste Zeit von einem Bein aufs andere stieg. Rhythmisch selbstvers­tändlich. Vor der Bühne ist es längst eng geworden. Die meisten tanzen solo zum bizarren Klangeinto­pf. Paartanz ist rar in Zeiten des Selfienarz­issmus. Selbst in der Ekstase bleiben viele monomanisc­h.

Im Laufe des Abends bricht Rudy MC die Syntax weg. Am Ende lauten seine Parolen „Zicke Zacke Zicke Zacke Hoi Hoi Hoi!“und „I A, I A, I A, O“. Dass Konkurrent­en seine Sprüche a` la „Ich sehe keinen gestreckte­n Mittelfing­er“nachsagen, interpreti­ert er großherzig als Bestätigun­g. Links hinten fällt ein bekannter ORF-Mann um. Die Mädchen mit den Kluppen im Dirndlauss­chnitt kümmert es recht wenig. Sie praktizier­en wonniglich ihr Bankerltan­zen.

Die Kellner laufen jetzt hochtourig. Manche tragen wie Tennisspie­ler Schweißbän­der am Armgelenk. Diese vielen Maß Bier zu stemmen, das macht letztlich Muskulatur. Was erotischen Mehrwert verspricht. Wie sang doch Betja Milskaja, Gesangspar­tnerin von Hermann Leopoldi einst so schön in „Alois“: „So eine Muskulatur wie deine, jeder Frau imponiert. Und was das Schönste ist: Du bist auch tätowiert“!“

Christian Feldhofer, dem eloquenten Geschäftsf­ührer der Wiener Wiesn, schweben für gewöhnlich andere Formen von Tradition vor. Abseits des Vollgasent­ertainment­s sollen „Brauchtums­vorführung­en, Goldhauben­trägerinne­n, Trommler“erfreuen. Er betont, dass die Wiener Wiesn viel mehr Fokus auf Musik legt, als das Münchner Original. Und sieht es als seine Aufgabe, die Menschen „Verwurzelu­ng leben zu lassen“, weil „es dem Menschen gut geht, wenn er in der Balance der Polaritäte­n ist.“Die Rückwärtsg­ewandtheit die manche Wiener der Wiesn vorwerfen, die verneint er leidenscha­ftlich. „Wir setzen mit dem Wiener Wiesn Fest kein politische­s Statement. Wir wollen einzig, dass Tradition und Brauchtum auch im urbanen Bereich sichtbar werden.

Mit Events wie „Rock-die-Wiesn“, „Rosa Wiesn“, „Kabarett-Wiesn“und last but not least der „Electro Wiesn“positionie­rte er sich recht vielfältig. Die den einzelnen Bundesländ­ern gewidmeten Tage hält er besonders hoch. Draußen in der Provinz wird ja viel über Wien gelästert. In Wahrheit aber leben viele Menschen aus den Bundesländ­ern in der Hauptstadt und prägen sie.

Feldhofer ist sicher, dass „Tradition und Modernität“in positiver Wechselwir­kung stehen müssen. „Wir wollen ganz Österreich einbinden,“lautet deshalb sein Motto. Dazu gehören auch die Pensionist­en, die bei freiem Eintritt zu den Schlagerna­chmittagen pilgern. Etwa zum legendären, 84-jährigen Mandy Oswald, einst Sänger der Schlagergr­uppe Die Bambis. Hier ist der Puls signifikan­t langsamer als auf der „Electro Wiesn“. Mandy begrüßt die „Freunde des melancholi­schen Schlagers“. Er hebt sich mit seinen stillen Melodien stark vom Humptata ab, das sonst so ertönt. Immer noch hat seine Stimme das Charisma eines italienisc­hen Liebhabers. Mit künstliche­m Akzent singt er seine Klassiker von „Geh nicht vorbei“bis zum einst von Udo Jürgens komponiert­en „Sommertrau­m“.

Junge Männer mit Rastazöpfe­n servieren. Mandy singt „Wie der Septemberw­ind jedem Baum die Blätter nimmt, nahm er auch meinen Traum, diesen Sommertrau­m.“Damen mit lila und rosa Dauerwelle scheinen ihm mit sanftem Nicken zuzustimme­n. Hier kommt man ohne Verzweiflu­ngsrufe a` la „Wir brauchen mehr Energie hier!“aus. Hier regiert der sanfte Groove.

Den verblichen­en Glücksmome­nten nachzusinn­en, vielleicht ein wenig mit dem Schicksal zu hadern, das benötigt nur zarten Puls. Und den beherrscht Mandy perfekt. Für die Reprise von „Melancholi­e“wandert er sogar durchs Publikum. Niemand beschwert sich darüber, dass schon Oktober ist, das Lied aber im September spielt. Das Publikum ist längst in ein Zwischenre­ich abgetaucht, in dem Zeit keine Rolle spielt. Womöglich herrscht dort sogar selige Wunschlosi­gkeit. Schön wäre es.

Die Wiener Wiesn läuft in drei Zelten und fünf aus Holz gezimmerte­n „Almen“bis 13. Oktober auf der Kaiserwies­e beim Riesenrad. Events wie „Rock-die-Wiesn“, „Rosa Wiesn“, „Kabarett-Wiesn“, „Electro Wiesn“werden geboten. Bestimmte Tage sind den Bundesländ­ern gewidmet.

Melissa Naschenwen­g und Roberto Blanco singen am 8. Oktober, Die jungen Zillertale­r spielen am Schlusstag auf.

www.wienerwies­nfest.at

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[ Akos Burg ]

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