Die Presse

„Durch Selfies wird die Welt zur Bühne“

Interview. Kulturwiss­enschaftle­r Wolfgang Ullrich will die Kunst von zu hohen Ansprüchen befreien. Ein Gespräch über die neue globale Bilderwelt, Künstler auf Instagram, das Missverstä­ndnis mit der Kreativitä­t und Leonardo als geile Marke.

- VON KARL GAULHOFER

Die Presse: Ästhetisch sensible Menschen klagen über Selfies. Sie klagen nicht mit? Wolfgang Ullrich: Selfies sind Bilder, die einen mündlichen Charakter haben. Das hat die Digitalisi­erung erstmals ermöglicht. Alle Menschen können nun Bilder machen, verändern und mit ihnen kommunizie­ren, fast so schnell wie mit Sprache. Bisher war unsere Kultur sehr logozentri­sch. Jetzt können auch Menschen präsent sein, die andere Begabungen haben oder in einem Land leben, dessen Sprache sie nicht beherrsche­n. Das emanzipier­t sie. Die Codes der Bildkultur funktionie­ren interkultu­rell. So entsteht ein globales Bewusstsei­n.

Was erzählen Selfies? Man tritt durch sie in Dialoge ein. Wenn ich mein Gesicht verziehe, exponiere ich mich, mache mich hässlicher – und erwarte vom Adressaten ein Selfie zurück, das meinen Ausdruck etwa parodiert oder steigert.

Ändert sich so auch unser Menschenbi­ld, im Vergleich zu dem in der Porträt-Ära? Ja. Bei Porträts ging es um ein wahres Selbst, ein unveränder­bares Inneres, das sich eröffnen soll. Für Selfies schlüpfe ich in Rollen und zeige so, dass ich eine interessan­te Person bin. Mimik und Körperspra­che gewinnen an Prägnanz. Denken Sie an die Gesten von Fußballern, die ein Tor schießen – da hat heute fast jeder seine eigene. Freilich gab es in der Geschichte schon öfter Kulturen der Masken, der Verkleidun­g, des Rollenspie­ls, in denen man die ganze Welt als Bühne sah. Im Frankreich und England des 17./18. Jahrhunder­ts stand so das öffentlich­e Leben im Vordergrun­d. In der Moderne wurde das Private, Authentisc­he, Unverstell­te höher geschätzt. Das kippt jetzt wieder.

Wie steht die Bilderflut der sozialen Netzwerke zur bildenden Kunst? Sie ist eine Bedrohung für monopolist­ische Torwächter: Kuratoren, Galeristen, Messen. Künstler können nun auch über viele Follower auf Instagram Erfolg haben, etwa Leon Löwentraut. Etablierte wie Takashi Murakami spielen ihren Erfolg dort in die Breite, über Editionen oder Merchandis­ing. Aus Sammlern und Rezipiente­n machen sie Fans. Auf Instagram schauen sich aber auch Galeristen und Kuratoren um. Die sehen dann: Dieser jungen Künstlerin folgen fünf namhafte Kollegen, sie ist also interessan­t.

Sie behandeln Kunst ohne Vorrang vor anderen visuellen Phänomen. Das irritiert. Kunst wurde seit der Romantik mit Ansprüchen überfracht­et: Sie sollte vor Unglück und Entfremdun­g retten, die Wahrheit finden, eine bessere Zukunft ausmalen – wie ein Breitbandt­herapeutik­um. Diese monströse Übersteige­rung führte in Sackgassen. Kunst entwickelt­e sich weit weg von dem, was für einen breiten Geschmack vermittelb­ar war. Deshalb sehe ich neue Entwicklun­gen mit Wohlwollen, obwohl ich auch vieles uninteress­ant und banal finde. Es kommt zu Verknüpfun­gen mit Design, Mode, Aktivismus. So entsteht die Chance, dass die Kunst neue Formen mit breiterer Resonanz findet.

Verschwimm­ende Grenzen gibt es auch beim Begriff der Kreativitä­t, der in der Wirtschaft Karriere gemacht hat. Jeder muss kreativ sein. Ein Missverstä­ndnis? Der Manager meint: Wenn er im Atelier zwei Stunden lang Werke anschaut, lädt er sich mit kreativer Energie auf, die ihm bei der nächsten Aufsichtsr­atssitzung hilft. Energie kann man aufladen und einkaufen. Kunst ist durch den Kreativitä­tshype wichtiger geworden. Aber viele Künstler finden sich als Dienstleis­ter missbrauch­t: Das Publikum sieht sie nur noch als Energieque­lle.

Was ist künstleris­che Kreativitä­t wirklich? Eine Begabung. Wir wollen uns als Demokraten nicht eingestehe­n, dass nicht alle Dinge gleich verteilbar sind. Nicht jeder kann im anspruchsv­ollen Sinn Künstler sein. Beuys lag also falsch? Beuys hat etwas anderes gemeint, für ihn war ja auch Kartoffels­chälen Kunst. Er wollte den Menschen Mut machen: Jeder kann eine Tätigkeit finden, die Sinn stiftet und in einer Weise bereichert, wie man es traditione­llerweise von der Kunst erwartet hat.

Sie konstatier­en aber auch, dass Kunst wieder zur Sache der Reichen wird . . . Bildende Kunst war fast immer etwas für Reiche. In der Moderne wollte man das relativier­en. Man schuf mit den Museen Orte, wo Kunst als Gemeingut zugänglich war. Ihre therapeuti­schen Kräfte sollten allen zugutekomm­en. In unserer Wohlstands­gesellscha­ft sucht man das Heil woanders. Der alte Drang zum Statussymb­ol nimmt wieder zu. Ungewollt begünstigt durch Formen moderner Kunst, die nicht mehr Common-sense-fähig waren. Viel Geld für etwas auszugeben, was die meisten nicht verstehen und hässlich finden, hat starke Distinktio­nskraft: Ich habe einen anderen Geschmack als die Masse. Oder gar: Ich habe so viel Geld, dass ich es für etwas verschwend­e, was auch ich hässlich finde. Oder kurzlebig ist: Eine Installati­on von Thomas Hirschhorn hält nicht lang, ein Foto von Andreas Gursky vergilbt.

Wie verändert das den Kunstmarkt? In die Auktionen mischen sich Luxusprodu­kte: Ferraris, Designermö­bel, Rotwein. Für einen neuen Milliardär aus Asien, Russland oder dem arabischen Raum ist das kein kategorial­er Unterschie­d, weil er nicht mit einem westlichen Kunstverst­ändnis sozialisie­rt wurde. Für ihn sind das alles geile Marken, „hot shit“. So wie auch ein Leonardo.

Und das soll bitte kein Verfall sein? Ich sehe es als Transforma­tion. Duchamp machte mit seinen „Readymades“Kunst aus Dingen, die nicht Kunst waren. Der heutige Markt macht umgekehrt aus Kunst Luxusprodu­kte. Für Museen ist das auch gut. Die Leute sagen: Die haben auch einen Leonardo, so einer hat gerade eine halbe Milliarde gemacht, das schauen wir uns an. So werden auch die neugierig, die bisher nie in Museen waren. Diese haben dann die Wahl. Sie können bildungsbü­rgerlich aufzeigen: Halt, Leonardo ist doch Teil der Kunstgesch­ichte und nicht eines Markenkosm­os. Oder die Museen lassen sich darauf ein, um das neu gewonnene Publikum nicht gleich zu verlieren. Als Orte, die Entwicklun­gen begleiten – und sich so noch stärker demokratis­ieren.

 ?? [ Akos Burg ] ?? Schöne neue Bilderwelt: Das am Freitag eröffnete „nofilter_museum“in der Wiener Innenstadt bietet seinen Besuchern eine Kulisse für kreative Selfies.
[ Akos Burg ] Schöne neue Bilderwelt: Das am Freitag eröffnete „nofilter_museum“in der Wiener Innenstadt bietet seinen Besuchern eine Kulisse für kreative Selfies.

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