Starb der Neandertaler wirklich aus?
Der Biochemiker Johannes Krause zeichnet die Menschheitsgeschichte mithilfe der modernen Genetik nach – und rüttelt mit seinen Ergebnissen an so mancher Überzeugung.
Die Presse: Mit Ihrer Forschung im Feld der Archäogenetik beschreiben Sie die Besiedelung der Welt durch den modernen Menschen anhand von DNA-Sequenzen. Wie geben unsere Gene Auskunft über Ereignisse wie Völkerwanderungen, die zum Teil Tausende Jahre zurückliegen? Johannes Krause: Man kann einerseits die DNA der heutigen Menschen betrachten und einen Verwandtschaftsstammbaum erstellen – der hat seinen Ursprung irgendwo in Afrika. Dann gibt es die sogenannte molekulare Uhr: Wir wissen, wie viele genetische Unterschiede pro Generation entstehen – jeder Mensch hat 30 bis 60 Mutationen, die seine Eltern noch nicht hatten. Neu ist, dass wir die DNA von Menschen aus der Vergangenheit untersuchen können. Wir extrahieren aus Skeletten, die bis zu einer halben Million Jahre alt sind, die DNA und untersuchen ihre Verwandtschaft zu anderen prähistorischen oder heute noch lebenden Menschen.
In Ihrem Buch „Die Reise unserer Gene“, das Sie gemeinsam mit dem Journalisten Thomas Trappe geschrieben haben, werden auch Ereignisse wie Kriege oder die Verbreitung von Kulturtechniken nachgezeichnet. Lässt sich das ebenfalls aus dem Erbgut lesen? Natürlich nicht direkt. Was man aber machen kann, ist beispielsweise Grabbeigaben oder andere kulturelle Gegenstände mit der Genetik korrelieren. So kann man im Extremfall sogar die Ausbreitung von Sprachen mit bestimmten genetischen Signaturen verknüpfen. Das funktioniert natürlich nicht, wenn einer Bevölkerung eine neue Sprache von wechselnden Eliten aufgezwungen wurde, wie es zum Beispiel in Ungarn der Fall war. Aber das ist eher die Ausnahme, normalerweise korreliert die Genetik recht gut mit der Sprache – zumindest bis in die Moderne. Auf einem Friedhof in New York nach Zusammenhängen von Sprache und Genetik zu suchen, wäre hingegen völlig sinnlos.
Wie sieht es mit der Verbreitung von Krankheiten aus? Bei Krankheiten funktioniert das inzwischen sehr gut, dazu haben wir auch Pionierarbeit geleistet. Wir können heutzutage aus den Skeletten ganze Genome der Krankheitserreger isolieren, sodass wir dazu in der Lage sind, exakt zu bestimmen, ist diese Person nun an der Pest, an Lepra oder an Tuberkulose gestorben – das ist relativ neu. So können wir auch untersuchen, wie sich diese Krankheiten ausgebreitet haben, ob es Epidemien oder gar Pandemien gab.
Bis vor wenigen Zehntausend Jahren gab es mehr als eine Menschenform – der berühmte Neandertaler ist nur einer von vielen. Warum sind am Ende nur wir übrig geblieben und die anderen ausgestorben? Da gibt es verschiedene Hypothesen. Es könnte auch sein, dass der Neandertaler nie ausgestorben, sondern einfach in uns aufgegangen ist – schließlich tragen alle Menschen außerhalb Afrikas einige Prozent Neandertaler-Gene in ihrem Erbgut. Wir haben mittlerweile vier gut bestätigte Fälle von genetischer Vermischung zwischen Urmenschen und modernen Menschen festgestellt. Der Neandertaler hat sich mindestens zwei-, vielleicht sogar dreimal mit uns vermischt, ebenso der Denisovaner. Es kann durchaus sein, dass der moderne Mensch einfach eine höhere Reproduktionsrate hatte und die anderen Menschenformen sich über viele Generationen mit uns fortgepflanzt haben, bis sie nicht mehr von uns zu unterscheiden waren.
ist Direktor des MaxPlanck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Archäo- und Paläogenetik. Er war maßgeblich an der Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms und an der Entdeckung des Denisova-Menschen beteiligt. In einem Vortrag an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zeigte er diese Woche, wie uns Migration und Anpassung seit der Vorgeschichte prägen. Einer Ihrer Beweggründe, Ihr Buch zu schreiben, waren die Nachwehen des Flüchtlingssommers von 2015 – inwiefern? Wir wollten mit dem Buch zeigen, dass Mobilität immer schon ein Teil der Menschheitsgeschichte war. Und dass es keine Blut-undErde-Genetik gibt, kein deutsches oder österreichisches Erbgut. Es gab ständig genetische Verschiebungen, die viel größer waren, als man sich das heute vorstellen kann. Vor 5000 Jahren kam es etwa zu einer großen Migration von Menschen aus Osteuropa, damals wurden 75 Prozent aller Gene in Mitteleuropa verschoben, in Großbritannien sogar 95 Prozent. Um das heute zu erreichen, brauchte man allein dort eine Milliarde Einwanderer, für ganz Europa brauchte man zehn Milliarden. Und wir machen uns Sorgen um eine Million Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Wir haben 750 Millionen Menschen in Europa, das wäre also nur ein 750stel der Bevölkerung. Deren Erbgut könnte man in tausend Jahren vermutlich gar nicht mehr nachweisen. Genetisch gesehen sind Sorgen vor Überfremdung also völlig irrational.