Die Utopie einer andersartigen Architektur
Wenn das Material das Design vorgibt, formt der Werkstoff Holz wilde Strukturen. An der Uni für angewandte Kunst Wien experimentiert eine Forschungsgruppe mit Holzkonstruktionen, die daraus entstehen.
Vierundachtzig Meter hoch ist das weltweit höchste Holzhochhaus in der Wiener Seestadt. Die ersten Gewerbeflächen im liebevoll „HoHo“genannten Gebäude werden in diesem Herbst bezogen. Der Kern des Holzriesen ist freilich aus Stahlbeton. Nichtsdestotrotz ist Holz ein zentrales Element aller Bereiche. Das Material passt sich in diesem Fall der Form an. Aber muss das so sein?
„Holz ist ein sehr besonderer Werkstoff, weil er sehr inhomogen ist und komplexe Eigenschaften durch die natürliche Wuchsform besitzt“, erklärt Lukas Allner. Üblicherweise wird im Holzbau versucht, das widerspenstige Material vorhersehbar und kontrollierbar zu machen – etwa durch Leimbinder oder Sperrholzplatten. Allner ist Teil eines vierköpfigen Projektteams aus Architektinnen und Architekten an der Universität für angewandte Kunst Wien, das sich dem Werkstoff experimentell annähert: „Wir versuchen, das Wesen des Materials zu verstehen. So gibt es in jedem Baum ein funktionierendes Tragwerk.“Zwei Jahre lang hat die Gruppe unter der Leitung von Christoph Kaltenbrunner im PEEK-Projekt (siehe Lexikon) „Conceptual Joining“mit künstlerischen Methoden erforscht, wie Architektur von den störrischen Eigenschaften von Holz profitieren könnte – anstatt dagegen anzukämpfen.
Eine Idee ist etwa, natürlich gewachsene Astgabeln als Komponenten eines räumlichen Tragwerks zu verwenden. Weil aber jeder Teil eines Baumes anders ist, entsteht eine hohe geometrische Komplexität. Hier kommt Daniela Kröhnert ins Spiel. Sie ist auf die digitale Produktion spezialisiert. Computergestützte Technologien ermöglichen es, heterogene Holzelemente zu erfassen und in einem digitalen Prozess zusammenzufügen. Die präzise Fertigung der mechanischen Verschlussprinzipien übernimmt ein mehrachsig fräsender Roboterarm.
Inspirationen für die Experimente liefern aber nicht nur die Hölzer selbst, sondern auch alte Steckverbindungstechniken aus der Handwerkskunst. „Uns interessiert, wie man altes Handwerkswissen mit modernen Techniken heute wieder einsetzen kann“, sagt Kröhnert.
„Mit welcher Intelligenz Brückentragwerke, Mühlräder oder Glockenstühle aus dem 17. Jahrhundert gebaut wurden, davor habe ich größten Respekt“, so Philipp Reinsberg, neben Allner, Kröhnert und Mechthild Weber der vierte im Bunde. Er hat vor seiner wissenschaftlichen Laufbahn als Zimmermann im Bereich der Restauration gearbeitet. Heute seien viele alte Ansätze des Handwerks in Vergessenheit geraten, sagt er. Denn mit der Industrialisierung hat sich die Holzbaukultur grundlegend geändert. An die Stelle der manuell gefertigten Verbindungen aus Holz traten vielfach standardisierte aus Stahl.
Neben der Boku Wien kooperierte das Angewandte-Team auch mit Jun Sato von der University of Tokyo, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Tragwerksplanung. „Jun Satu arbeitet sehr poetisch und konzeptionell. Spannend ist vor allem seine Perspektive auf Licht“, betont Reinsberg. In den chaotischen Prinzipien, nach denen Stabwerke aus Astgabeln entstehen, sehe der japanische Ingenieur Lichtfilter. „Das Licht, seine Brechung und die Kontraste stellen einen Zustand der Natürlichkeit her, der sich für uns Menschen besonders gut anfühlt, wie im Wald.“
Mit Häusern haben die im „Conceptual Joining“-Projekt entwickelten Gebilde noch wenig zu tun − eine Konsequenz aus dem ergebnisoffenen und spielerischen Ansatz des Projektes. Trotzdem: Es entstanden neue Strukturen und – mit etwas Fantasie – auch Räume.
Die Struktur- und Raumexperimente der Forschungsgruppe werden ab 9. Oktober im Angewandte Innovation Laboratory am FranzJosefs-Kai 3 (1. Bezirk) gezeigt. Zu sehen sind Modelle, prototypische Strukturen im 1:1-Maßstab, Videos sowie Augmented-Reality-Simulationen einer spekulativen Zukunftsvision. Die Ausstellung läuft bis 29. Oktober.
ist eine Wissenschaftstheorie, derzufolge künstlerische Verfahren analog zu den etablierten wissenschaftlichen Methoden Erkenntnisse generieren.
ist ein Programm des Wissenschaftsfonds FWF zur Entwicklung und Erschließung der Künste. Gefördert werden damit künstlerische Forschungsprojekte, auch um ihre potenziellen Anwendungen sichtbarer zu machen.