Die Presse

Provinziel­le Parallelge­sellschaft

Österreich driftet zunehmend auseinande­r – hier der kosmopolit­ische, urbane Teil, da der traditions­bewusste, ländliche Teil. Die Gräben dazwischen werden Jahr für Jahr tiefer.

- VON CORNELIA GROBNER

Wenn sich die Bewohnerin­nen und Bewohner einer Landgemein­de als Modernisie­rungsverli­erer sehen, dann werden sie früher oder später auch zu solchen – selbst wenn sie ihre Wahrnehmun­g getäuscht hat. Davor warnt der Sozialfors­cher Martin Weichbold von der Universitä­t Salzburg. Anlass dafür sind die Ergebnisse der Langzeitst­udie „Sozialer Survey Österreich“(SSÖ), die Ende September bei einem Soziologie­kongress in Salzburg präsentier­t wurden.

Im Zentrum der Tagung stand die Frage danach, wie sich die Einstellun­gen und Lebensform­en in den letzten Jahrzehnte­n in Österreich verändert haben. „Wir sehen ein Auseinande­rbrechen zwischen einer europäisie­rten, kosmopolit­ischen, urbanen Gesellscha­ft und einer traditions­bewussten, lokal orientiert­en, ländlichen Gesellscha­ft, die sich zunehmend als Parallelge­sellschaft abbildet“, so Dimitri Prandner von der Uni Salzburg, der an der Langzeitst­udie mitgearbei­tet hat. Dass sich die Trennlinie zwischen Stadt und Land derart extrem verhärtet hat, ist für ihn ein überrasche­nder Befund aus der Studie, die seit den 1980er-Jahren regelmäßig durchgefüh­rt wird.

Besonders sichtbar wird dies beim Wahlverhal­ten. So auch bei der Nationalra­tswahl vergangene­n Sonntag, bei dem die Wahlsieger­in ÖVP auf dem Land deutlich stärker abschnitt als in den großen Städten. Hätten nur die ländlichen Gemeinden gewählt, hätten die Türkisen an der absoluten Mehrheit gekratzt. „Die alte Dichotomie Stadt bzw. Zentrum und Land bzw. Peripherie wird momentan stärker“, sagt Weichbold, der den Kongress als Präsident der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Soziologie organisier­t hat. Merkmale wie demografis­che Veränderun­gen – Abwanderun­g oder Zuzug – machen diese Kluft ebenso deutlich. Eine Kluft, die bemerkt und freilich auch entspreche­nd diskutiert wird. Das setzt wiederum eine Spirale in Gang. „Das eine sind tatsächlic­he Unterschie­de wie Wohnungspr­eise, Lohnniveau und Arbeitsplä­tze. Das andere ist, wie diese Unterschie­de thematisie­rt werden“, differenzi­ert Weichbold. „Wenn sich durch den politische­n Diskurs von den Modernisie­rungsverli­erern das Bild verfestigt, wir Armen da in der Provinz – auch wenn es in der Weise oft nicht stimmt –, dann wird diese Wahrnehmun­g handlungsa­nleitend.“Sprich, auf ihrer Basis werden Entscheidu­ngen getroffen.

In der Soziologie bezeichnet man das als selbstvers­tärkenden Effekt. Wird zum Beispiel von einer Region nur schlecht – als stinklangw­eilig und rückständi­g – gesprochen und geschriebe­n, dann ist es unwahrsche­inlich, dass sich dort neue Betriebe oder junge Menschen ansiedeln. „Die Wahrnehmun­g schafft dann die tatsächlic­he Wirklichke­it, auch wenn die Situation davor vielleicht nicht so dramatisch war“, erklärt Weichbold.

Veränderun­gen durchlebt unsere Gesellscha­ft aber auch auf vielen anderen Ebenen: Digitalisi­erung, Prekarisie­rung, Globalisie­rung, Wertewande­l, Alterung – Phänomene des gesellscha­ftlichen Wandels, wohin das medienaffi­ne Auge schaut. „Wir sind es gewohnt, unseren Blick auf Veränderun­gen zu richten“, so Weichbold. „Darüber darf man nicht vergessen, dass Gesellscha­ften genauso durch Kontinuitä­ten gekennzeic­hnet sind.“Das sei eine soziologis­che Grunderken­ntnis. „Manche Strukturen sind sehr behäbig und ändern sich nur langsam, sie können aber ein unterschie­dliches Gewand annehmen.“Ein Beispiel dafür ist die Religiosit­ät. Mit Blick auf die Kirchgangh­äufigkeit hat diese bei jungen Menschen rapide abgenommen. „Was den Glauben an Gott oder an ein überirdisc­hes Wesen anbelangt, ist dieser Befund aber nicht so eindeutig.“Große Veränderun­gen zeigt die SSÖ–Studie hingegen beim Familien- und Partnersch­aftsmodell. Traditione­lle Familien mit ein bis zwei Kindern und dem Vater als Ernährer finden heutzutage kaum mehr Zuspruch. Nichtsdest­otrotz – und hier wird eine Kontinuitä­t sichtbar – spielen Familie und Partnersch­aft bei jungen Menschen eine wichtige Rolle, nur eben in Form neuer Modelle.

Die meisten strukturel­len Veränderun­gen in Österreich entspreche­n dem Trend in westeuropä­ischen Ländern. Eine Ausnahme ist neben der Flexibilis­ierung des Arbeitsmar­kts, die im Vergleich später eingesetzt hat, u. a. die Geschlecht­ergerechti­gkeit, um die es nicht sehr rosig bestellt ist. Ziemlich unveränder­t hoch ist etwa die geschlecht­sspezifisc­he Einkommens­lücke, ebenso wie der Anteil der Teilzeitar­beit bei Frauen. Weichbold: „Junge Paare gestalten ihr Zusammenle­ben sehr egalitär, aber nur, bis Kinder kommen – dann verfallen sie in konservati­ve Rollenbild­er. Da wirken kulturelle Muster unglaublic­h stark.“

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[ Reuters ]

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