Ganze Tage und halbe Nächte
Du wirst nächstes Jahr viel Arbeit haben“, lacht Teresa, nachdem sie die Post geöffnet hat und wedelt mit einem Blatt Papier vor meiner Nase herum. „Wie meinst du das – ich hab immer viel Arbeit“, will ich gerade sagen, dann sehe ich den Briefkopf: „Börsenverein des Deutschen Buchhandels“, und in dem Augenblick ahne ich es: Das ist die Frage, ob ich an der nächsten Jury des Deutschen Buchpreises teilnehmen will. Zwei Tage Bedenkzeit, doch entschieden habe ich mich beim erstmaligen Lesen des höflichen Anschreibens. Wie könnte ich Nein sagen? Ich lese ohnehin ständig, dann eben ein paar Monate nur deutsche Literatur und ein bisschen mehr als sonst, und vielleicht muss ich hin und wieder zu Sitzungen reisen. Ich freue mich darauf und fühle mich geehrt.
Zunächst bleibt alles geheim, niemand darf davon erfahren, erst im Februar gibt es eine Pressemitteilung, ich verbiete mir, irgendetwas anderes als deutsche Literatur zu lesen, schließlich könnte etwas davon auf der Liste sein. Den neuen T. C. Boyle verschlinge ich mit schlechtem Gewissen noch rasch in zwei Nächten.
Erstes Treffen in Frankfurt, ich freue mich, dass Daniela Strigl auch zugesagt hat, obwohl sie vor zehn Jahren schon einmal Jurorin war. Ein vertrautes Gesicht und eine zweite Österreicherin, das beruhigt mich ein wenig. Es gibt eine mehrere Seiten umfassende Liste, darauf stehen 173 Titel. Wir können auch nachnominieren, doch angesichts der Fülle üben wir Zurückhaltung. Die Liste ist nun auf über 200 angewachsen, jeder von uns bekommt ein Kontingent von dreißig zugeteilt. Diese Bücher liegen in meiner Verantwortung, empfehle ich sie den anderen Juroren, haben sie gute Chancen weiterzukommen, lehne ich sie ab, kommt es darauf an, ob ein anderes Jurymitglied von dem Buch begeistert ist. Wir erhalten noch Infomappen mit den nächsten Terminen, die Ermahnung, nichts aus diesen Sitzungen nach außen zu tragen, und einen E-Reader für jene Texte, die es noch nicht in Buchform gibt.
Langsam trudeln die Kartons ein, das einzig freie Regalbrett in unserer Wohnung hängt im Esszimmer, das könnte zum Problem werden, wenn wir Besuch empfangen, wo doch alles so geheim ist. Als ich darüber nachdachte, ahnte ich noch nicht, dass in den nächsten Monaten für Besuch ohnehin keine Zeit sein wird.
Die fünfeinhalb Meter sind eindrucksvoll, nur wenige Titel habe ich bereits gelesen. Ich tauche ein in das Abenteuer „Marathonlesen“. Ich lese nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen, in der Mittagspause und auf dem Klo. In der Straßenbahn und auf dem Beifahrersitz des Autos. Ich lese ganze Tage und halbe Nächte, und wenn in der Buchhandlung nicht viel los ist, sitze ich auf Abruf am Küchentisch und lese. Auf meinem täglichen Frühmorgen-Spaziergang mit dem Hund denke ich über das Gelesene nach. Sämtliche Geschichten verweben sich zu einem Brei, in dem mal DDRHistorie, Zweiter Weltkrieg oder vertrackte Beziehungen obenauf schwimmen, und irgendwann fällt es mir siedend heiß ein: Ich sollte dieses Jahr noch ein Buch schreiben. Geboren 1967 in München. Studium der Psychologie und Geschichte, arbeitete als Pressereferentin und Literaturkritikerin in Wien und Hamburg. Buchhändlerin und Autorin. Bei Dumont ist „Meine wundervolle Buchhandlung“erschienen das Werk wurde in ze Kritik. Allein diese Korrespondenz zu bewältigen, würde normalerweise einen halben Arbeitstag pro Woche beanspruchen und ein „Best of“wäre ein durchaus unterhaltsames Buch. Ich versuche, die unterschiedlichen Geschmäcker der Jurymitglieder rauszufinden, jeder hat seinen eigenen Humor, seine ganz persönlichen Abneigungen. Ein paar hymnische Besprechungen sind dabei, viele „ich weiß nicht so recht“.
Ich fühle mich ein bisschen weniger gestresst, nachdem ich mein Buchprojekt abgesagt habe und mich nur noch dem Lesen widme. Ganze Tage verbringe ich mit Büchern, auf dem Sofa, im Freibad, im Garten von Freunden, im Wochenendhaus. Ich gewöhne mir an, jedes Buch sofort zu kommentieren, denn in meinem Kopf gehen die Menschen von mindestens zehn verschiedenen Romanen miteinander komplizierte Beziehungen ein, und die Welt – zumindest die literarische – ist voll von Männern, die über fünfzigjährig auf dem Barhocker sitzen und darüber nachdenken, warum ihre Frauen sie verlassen haben und was das alles mit ihrer DDR-Vergangenheit zu tun hat.
Trotz des Drucks ist es doch gleichzeitig auch ein Gefühl der Entschleunigung: Handy aus, Kopfhörer mit Bach auf den Ohren, Notizen ausschließlich mit Bleistift im Heft und nicht am Laptop, damit ich ja nicht Gefahr laufe, mich im Internet zu verlieren. Der Gang zum Kühlschrank wird selten angetreten, und ich teste mehrere Male, wie lange Wäsche in der Waschmaschine bleiben kann, bevor sie zu riechen anfängt. Das Wochenende bei den Schwiegereltern verbringe ich hauptsächlich im ehemaligen Kinderzimmer meines Mannes, schließlich muss ich lesen.
Bücher unbekannter Autorinnen aus kleinen Verlagen, schräge und experimentelle Geschichten, die ich ohne Zwang wohl niemals gelesen hätte und die mir großes Vergnügen bereiten. Texte von nicht mehr ganz jungen Literatur-Ikonen, die sich drei Tage nach dem Erscheinen ganz oben in den Bestsellerlisten finden und mich dennoch nicht begeistern. Dazwischen immer wieder Bewertungen der Kollegen, die neugierig machen auf Bücher, die nicht auf meiner Liste sind, und so wird ständig fremdgelesen, beigepflichtet oder quergeschossen. Die mahnende Mail des Börsenvereins trifft mich wie ein Blitz: In vier Tagen muss jeder seine Liste abgearbeitet haben, und mir fehlen noch fünf Bücher, ich habe wohl zu viel in den Gärten der anderen gewildert, denn mehr als Tag und Nacht lesen kann man wohl nicht. Sie gewähren mir ein Wochenende Aufschub.
Wie wahrscheinlich jedes Jurymitglied in dem fünfzehnjährigen Bestehen des Deutschen Buchpreises hadere ich mit der Verantwortung, die ich hier habe. Da es unmöglich ist, in vier Monaten über 200 Bücher zu lesen, ist eine Aufteilung selbstverständlich notwendig. Doch wenn ich ein Buch nicht gut finde und die Bewertung so spürt, es ebenfalls zu prüfen, ist dann das Buch sofort raus aus dem Spiel? Die bekannten Namen haben natürlich einen gewissen Startvorteil, keine Jury würde arrivierte Autoren aufgrund einer einzigen negativen Stimme rauskicken. Deswegen werden viele Kommentare mit einem „Bitte, schaut euch das noch an“versehen, was den Lesedruck natürlich erhöht.
Eine Woche vor der Sitzung zur Erstellung der Longlist schmilzt der Topf der in Frage kommenden Bücher auf vierzig bis fünfzig, es gibt darunter nur wenige, die wir alle gut finden. Meine große Enttäuschung erlebe ich bereits in den ersten Wochen, als ich mit meiner großen Begeisterung für einen Titel bei den anderen auf wenig Gegenliebe stoße, ich schreibe eine Zweit- und Drittbegründung. Nicht, um die anderen zu überzeugen, sondern, um so viele Mitjuroren wie möglich dazu zu bringen, das Buch zu lesen. Ich hoffe, dass zumindest einer dabei bist, der die Genialität erkennt und sich auf meine Seite schlägt. Es tauchen auch Bücher auf den Lieblingslisten der Juroren auf von denen ich nicht mehr als hundert