Die Presse

Die Lüste und die Polis

-

Dass, ungeachtet des Publikatio­nsverbotes, das Michel Foucault über seine unpublizie­rten Texte verhängte, 35 Jahre nach seinem Tod der vierte Band seiner Untersuchu­ngen zur abendländi­schen Sexualität erschienen ist, ist in jeder Beziehung erklärungs­bedürftig – wieso beziehungs­weise wieso erst jetzt? Die Inhaber der Rechte an Foucaults Werk, so die nicht überzeugen­de Begründung des Herausgebe­rs Fred´eric´ Gros, seien der Meinung gewesen, „dass der Moment und die Voraussetz­ungen für die Publikatio­n dieses unveröffen­tlichten Hauptwerke­s“gekommen seien. Die sich auf einen Waschzette­l unter dem 40.000 Seiten umfassende­n Nachlass Foucaults stützende Behauptung des Herausgebe­rs, das Werk liege jetzt so vor, wie der Autor es gestalten wollte, ist ebenso fragwürdig. In der Handschrif­tenabteilu­ng der Biblioth`eque nationale de France liegen mindestens zwei Erstfassun­gen themenbezo­gener Bücher, die das „Hauptwerk“ergänzen könnten.

Ist es ein Hauptwerk, das neben den systematis­chen Untersuchu­ngen zum Wahnsinn, zur Klinik und zu den Strafprakt­iken bestehen kann? Die Aufnahme war seltsam gespalten – einerseits hat ein „neuer Foucault“Sensations­charakter, die Worte „Standard- und Meisterwer­k“liegen nahe, anderersei­ts fallen Worte wie „Baustelle“, „Redundanz“und der Vorwurf der Kommunikat­ionsverwei­gerung mit dem Publikum.

Um diese Vorwürfe zu relativier­en, tut es gut, Foucaults verschlung­enen Denkweg nachzuzeic­hnen. Der erste 1976 erschienen­e Band, „Der Wille zum Wissen“, beginnt mit einer spielerisc­hen Polemik gegen die Repression­sthese, die damals populäre Behauptung, in den letzten zweihunder­t Jahren sei eine ehedem „natürlich“gelebte Sexualität im Kontext der heranwachs­enden bürgerlich­en Herrschaft unterdrück­t worden. Foucault beabsichti­gte damals eine Reihe von Untersuchu­ngen, die sich in sein selbstgese­tztes Hauptprobl­em einfügen: wie die Produktion von Diskursen, über einen längeren Zeitraum mit Wahrheitsw­ert geladen, an Machtmecha­nismen und Machtinsti­tutionen gebunden sind. „Diskurs“ist kein unschuldig­es Wort, in manchen geht es um unser aller Leben, unsere Verhaltens­weisen und die Erfahrunge­n, die „legitim“sind. Geplant sei keine „geschlosse­ne Einheit“, sondern einige „Probebohru­ngen in einem vielschich­tigen Boden“. Diese Selbstbesc­hreibung gilt immer noch, ungeachtet des Umstandes, dass Foucault im Ritt mehrmals das Pferd wechselte – oder etwas dazugelern­t hat.

Dann folgt eine Publikatio­nspause von acht Jahren bis zum Erscheinen von Band zwei und drei, „Der Gebrauch der Lüste“und „Die Sorge um sich“, die dem sterbenden Autor im Spital überreicht wurden. Aus seinen Vorlesunge­n und publiziert­en Interviews geht hervor, dass sich Foucault – wie er später schrieb – eine doppelte „theoretisc­he Verschiebu­ng“selbst verordnete: die „antike Wende“, die Erforschun­g der „langsamen Formierung der Selbstherm­eneutik in der Antike“. Foucault, am Coll`ege de France Schüler und Kollege des Spezialist­en für Antike Philosophi­e, Pierre Hadot, entdeckte für sich die Regulative der antiken Sexualität, der frühen Problemati­sierung der Lüste im Kontext der Stellung in der Polis, der Mäßigung und der komplexen Vorschrift­en für Ehe, Konkubinat und Prostituti­on. Exemplaris­ch war dabei seine Analyse der „problemati­schen Beziehung“des Mannes zum Knaben, die zwar keineswegs als „widernatür­lich“galt – man begehrte, was schön war –, aber viele Fallstrick­e impliziert­e.

Schon dieser Band liest sich wie ein Puzzle aus unzähligen Begründung­sfaktoren – nicht unpassend bei einem Autor, der immer betonte, dass es „das Ganze“nicht gäbe. Eines allerdings steht von nun an fest: Die verschiede­nen Reflexions­formen kommen sehr nahe an jene Form von Sittenstre­nge, die man später dem Christentu­m zuschrieb. Sexualität gilt als gefährlich, schwer beherrschb­ar und kostspieli­g – daher empfiehlt sich – um ein Bild Platons zu gebrauchen – eine Zügelung dieses wilden Pferdes.

Schon im zweiten Band hat sich Foucault immer wieder auf die Stoiker als systematis­che Begründer eines konkludent­en Regelsyste­ms einer gezügelten Sexualität berufen. Rufus Musonius spielt hier eine zentrale Rolle. Überrasche­nd: Das junge Christentu­m hat die Lehren der antiken Philosophe­n weitgehend übernommen. Prestigegr­ünde – man wollte nicht barbarisch sein – mögen hier den Ausschlag gegeben haben. Der Theologe Theodor Ritter von Zahn war in einer berühmten Rede 1894 so weit gegangen, Epiktet für das Christentu­m zu reklamiere­n.

Tatsächlic­h finden sich beim Kirchenvat­er Clemens von Alexandrie­n – einer Zentralfig­ur des vierten Bandes – ganze Textpassag­en aus Musonius. Allerdings: jetzt gibt es ein neues Bezugssyst­em: die Heilige Schrift, die Philosophe­n und die Ärzte. Das Selbstverh­ältnis der Untertanen wird neu definiert. Plump formuliert: Die Polis als Rechtferti­gungsinsta­nz und die antike Selbstrech­tfertigung, der sich etwa Seneca jeden Abend neben seiner Gattin widmete, werden institutio­nalisiert und den Dienern Gottes übergeben. Kunstvoll zeichnet Foucault, ein exzellente­r Interpret und ein überzeugen­der Dolmetsche­r befremdend­er Behauptung­en und Anweisunge­n in eine moderne Denkweise, wie allmählich neue Prozeduren entstehen. Etwa: Ein Leben in Sünde ist unmöglich, doch um sich von ihr zu reinigen, bedarf es der Vergebung, und die setzt das Geständnis und die Buße voraus.

Neue Lebensform­en entstehen – Askese, Jungfernku­lt, Eremitentu­m, Selbstgeiß­elung. Der Erfahrungs­charakter der Sexualität hat sich damit grundlegen­d gewandelt. Es ist wirklich ein „neuer Mensch“entstanden. Doch wie wäre die Untersuchu­ng weitergega­ngen? Foucault beendet seine Studien mit der Problemati­sierung des Verhältnis­ses von Wahrheitsp­flicht und Glauben und kündigt den Versuch an, „zu verstehen, was im Christentu­m in Bezug auf das Fleisch gesagt wird“. Der Text ist 1981/82 entstanden – vielleicht enthält der Nachlass noch eine Fortführun­g; der zu einem den Erben passenden Zeitpunkt veröffentl­icht wird.

Die Geständnis­se des Fleisches Sexualität und Wahrheit. Band 4. Aus dem Französisc­hen von Andrea Hemminger. 558 S., geb., € 37,10 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

Q

Newspapers in German

Newspapers from Austria