Die Presse

Agil werden: Keine leichte Geburt

Fuck-up. Theorie ist eines, Praxis etwas ganz anderes. Hier erzählt eine vom „agilen Virus Infizierte“, was bei der Transforma­tion ihrer Organisati­on gut ging. Und was weniger gut.

- VON ANDREA LEHKY

Klaudia Zemlics war einmal österreich­ischer Head of Customer Service bei der ING Bank. 40 Mitarbeite­r, Status, Einfluss. Dann hörte sie, dass die niederländ­ische Muttergese­llschaft das agile Konzept über die Länder ausrollen wollte, „und da habe ich mich verliebt“. In das Konzept nämlich. Zemlics spricht so, dass sie jeder versteht.

Jetzt ist sie Agile Coach, einer von fünf im Haus. Zum Verständni­s: Agile Coaches spielen neben den Product Owners (zu ihnen später) die tragenden Rollen in agilen Organisati­onen. Die Agilen Coaches coachen die Teams (Tribes und Squads genannt), damit die ihre Arbeit machen können. Keine Spur von Macht und Weisungsbe­fugnis.

Gehen ihr die ab? „Gar nicht“, beteuert Zemlics, „es ist schön, die Kollegen an der Hand zu nehmen und in die Agilität zu führen.“Die Kollegen fanden das nicht sofort schön. „Die erste Frage war immer: Was heißt das für mich?“

Hier endet die rosarote Verklärthe­it. Man saß nicht mehr mit den Teamkolleg­en in einer Abteilung zusammen – IT’ler mit dem ITChef, Produktver­antwortlic­he mit ihrem Produktman­ager –, sondern durcheinan­dergewürfe­lt, der IT’ler neben dem Produktver­antwortlic­hen, zwei von fremden Sternen.

Nicht alle verstanden sich auf Anhieb. „Wir haben Pizza-Sessions eingeführt“, erinnert sich Zemlics, „da haben die Leute alles erzählt, was ihnen am Herzen lag.“Dass der Vorgesetzt­e nun so weit weg saß etwa. Wie soll er sie da am Jahresende beurteilen?

„Ihr müsst auch unterm Jahr nach Feedback fragen“, lautete die Antwort. Was nicht überall gut ankam. „Da könnte man ja etwas zu hören bekommen, das einem nicht schmeckt.“Daran arbeitet Zemlics. Dass angstfrei über Fehler geredet wird – und auch darüber gelacht werden darf. Es wird besser: Ein Bereich führte den „Fuckup Award“(engl. für vermasseln) ein, ein anderer schreibt Strichlist­en, wem was schiefging.

Der Durchbruch gelang, als auch das Management seine Einzelbüro­s aufgab. Die Vorstände sitzen jetzt alle zusammen an einem großen Tisch. Auch sie mussten umlernen: „Command & Control haben wir flott eliminiert“, sagt Zemlics, „Die Squads bekommen Ziele, aber das Management konnte nicht mehr bestimmen, wie sie da hinkommen.“

„Richtig schief“ging vor zwei Jahren, ganz zu Beginn der Agilwerdun­g, der Versuch, ein neues Produkt mit einem Pioniertea­m ins Leben zu rufen. „Wir wollten clever sein und anhand dieses Prototyps zeigen, wie toll das neue System ist. Mit den besten Leuten. Fast wären sie uns abgesprung­en.“

Weil sie gegen das alte System nicht ankamen, das mit ihrer Arbeitswei­se nichts anzufangen wusste. „Im Lehrbuch wird das anders dargestell­t: Erst der Pilot, dann der Rollout. Aber das Lehrbuch sagt nicht, dass alles scheitert, wenn das übrige System nicht mitspielt.“Schlussfol­gerung: Nie wieder Prototypen.

Stattdesse­n zwei Lektionen. Erstens, der Product Owner, die zweite tragende Rolle in einer agilen Organisati­on, muss von Anfang an stark positionie­rt werden. Er stimmt die Eigenschaf­ten eines neuen Produkts mit dem Kunden ab, priorisier­t und überwacht sie. Zemlics: „Der Product Owner ist ein Wunderwuzz­i. Er braucht jede Unterstütz­ung von oben.“

Zweitens, sich bei der Transforma­tion einer Organisati­on jede Hilfe von außen zu holen. Weil leichte Geburt ist es keine.

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[ Lehky ]

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