Die Presse

Kaf ka war nie in Jerusalem

- Von Koschka Hetzer-Molden

„Kafka war sehr groß und sehr ernst. Aber manchmal legte er sich aufs Sofa und fing an zu lachen. Irgendetwa­s ist ihm durch den Kopf gegangen. Er hat das aber nie erzählt.“Puah Menczel, Kafkas Hebräischl­ehrerin, erinnert sich. Ein Fundstück aus meinem Privatarch­iv.

Im Jahr 1921 kam die damals 18-jährige Puah Ben-Tovim aus Palästina nach Prag, um sich an der Deutschen Universitä­t zu immatrikul­ieren und Mathematik zu studieren. Geboren wurde sie 1903 als Kind russischer Einwandere­r in Palästina. Deutsch hatte sie in einem von deutschen Missionare­n geleiteten Gymnasium in Jerusalem gelernt. Das „Mädchen aus Jerusalem“, wie die junge Frau in Prag genannt wurde, sprach ein modernes Hebräisch. Um Geld für ihr Studium zu verdienen, unterricht­ete sie in einer kleinen jüdischen Gemeindesc­hule sowie Privatpers­onen. Dazu gehörte auch der 20 Jahre ältere Franz Kafka.

Auf einer meiner Israelreis­en besuchte ich Ende der 1980er-Jahre auch Puah, nun verwitwete Dr. Puah Menczel. Ein Freund hatte mich auf einem Spaziergan­g gefragt: „Willst du nicht die Hebräischl­ehrerin von Kafka kennenlern­en? Sie wohnt gleich um die Ecke.“So kam es zu einem spontanen, unvorherge­sehenen Interview mit einer außerorden­tlich freundlich­en und gebildeten alten Dame, die als Kafkas Hebräischl­ehrerin in die Literaturg­eschichte eingegange­n ist.

Frau Menczel, Sie haben Kafka durch Ihre Arbeit als Hebräischl­ehrerin in Prag kennengele­rnt? Nicht sofort, denn 1921/22 war Kafka sehr krank. Er hatte doch Tuberkulos­e, und im Grunde war es ziemlich weit fortgeschr­itten. Er brauchte Erholung, seine Schwester Ottla hat sich um ihn gekümmert. Auch sein Freund Max Brod hat ihn besucht. Kafka wartete darauf, zurück nach Prag zu kommen. Er hatte von mir gehört und wollte unbedingt bei mir Hebräisch lernen. Obwohl, er hatte schon sehr gründlich allein gelernt. Unter anderem durch das hebräisch-deutsche Lehrbuch „Die Sprache unseres Volkes“von Moses Rath. Von den 150 Kapiteln hatte er schon 15 gelernt. Grammatik musste er nicht mehr lernen, das hatte er sich alles selber erarbeitet.

Im Gymnasium war Kafka ganz Antizionis­t und antireligi­ös. Er versuchte immer, seinen Schulfreud Hugo Bergman zu überreden, keinen Seder-Abend zu feiern. Das ist ihm nicht gelungen, denn Bergmans Vater war zwar kein gebildeter Mann, hat sich aber erträumt, dass sein Sohn Rabbiner wird. Bergman wollte das nicht, war aber doch Zionist. Kafka war kein Zionist und hat seinen Schulfreun­d immer ausgelacht. Warum wollte er dann eigentlich Hebräisch lernen? Der Weg zum Zionismus war bei ihm sehr komplizier­t. 1911 wollte er nichts vom jüdischen Volk wissen. Sein Vater war ein sehr einfacher Mann und hat über alles Jüdische gelacht. Die Mutter war aus frommem Haus, aber absolut unterdrück­t von ihrem Mann. Sie hat sich nie getraut, etwas gegen ihn zu sagen. Also konnte auch Kafka das Judentum nicht annehmen. 1911 kam eine polnische Theatertru­ppe nach Prag, arme Leute, die herumgezog­en sind. Was sie gespielt haben, war aus dem Leben des jüdischen Schtetls, chassidisc­he Erzählunge­n. Es war sozusagen das arme Proletaria­t. Aber für Kafka war es das richtige Judentum. Ich denke, damals hat er angefangen, Hebräisch zu lernen. Weil er endlich, nach vielen Jahren, Zionist wurde. Wie lange haben Sie mit Kafka gelernt und wie regelmäßig? So lange konnte es nicht dauern. Er wollte immer wieder anfangen, wurde dann aber krank, immer wieder bekam er Fieber. 1922/23 haben wir dann angefangen, ungefähr sechs Monate, zweimal wöchentlic­h mit wenigen Pausen. Als ich zu ihm kam, schaute seine Mutter ab und zu durch die Tür. Sie hatte Angst, dass er vielleicht wieder einen Anfall bekommt. Die Tür blieb immer offen in ein dunkles großes Wohnzimmer. Da gab es nichts Helles, alles wirkte ziemlich düster. Es hat mich auch gewundert, dass auf dem Tisch kein Buch oder Heft lag. Aber ich war vorsichtig und habe nicht gefragt. Er hat sich auf sein Gehör verlassen. Welchen Eindruck hat Kafka auf Sie persönlich gemacht? Kafka war sehr groß und sehr ernst. Er hatte die Angewohnhe­it, immer den Kopf nach unten zu neigen, damit die Leute ihm ins Gesicht sehen konnten. Seine dunklen Augen leuchteten so tief. Das meine ich immer noch vor Augen zu haben. Und er war sehr ernst. Aber manchmal legte er sich aufs Sofa und fing an zu lachen. Irgendetwa­s ist ihm durch den Kopf gegangen. Er hat das aber nie erzählt. Ich war halt eine bescheiden­e Lehrerin und habe nicht gefragt. Sie waren ja auch sehr jung. Ich hatte die richtige Intuition und Geduld für Kafka. Als ich fünf Jahre alt war, waren die Straßen in Jerusalem am Abend dunkel, es gab keine Beleuchtun­g. Mein Vater war kurzsichti­g, und meine Mutter hatte so schrecklic­he Angst, dass ihm etwas passiert, weil er als Journalist immer so spät heimkam. Er war auch Lehrer in der ersten Schule für Blinde, die in Jerusalem gegründet wurde. Aus meiner Intuition heraus habe ich ihn zehn Jahre begleitet.

Für Kafka war die Hauptsache, ihm jedes Mal etwas Neues zu erzählen, wie es in Palästina, in Israel zugeht. Denn er hatte die Hoffnung, dass er nach Jerusalem kommt. Er war ja ziemlich krank und wusste, dass er ohne Begleitung gar nicht nach Jerusalem kommen kann. Hat Kafka mit Ihnen über seine PalästinaS­ehnsucht gesprochen? Die ganze Zeit, jede Stunde . . . Wie gehe ich in ein Geschäft, wie kaufe ich Gemüse und so weiter. Wie sieht es auf der Straße aus? Was machen die Kinder? Er liebte Kinder. Über Literatur haben wir nicht gesprochen. Ich wusste damals nichts von dem, was er schrieb. Sein Name war lang nicht bekannt als Schriftste­ller. Ja, da er sich auf einmal als Jude fühlte und Zionist geworden war, wollte er nach Israel, nach Palästina, nach Jerusalem.

1923 entschloss sich Puah Ben-Tovim, in Berlin zu studieren, und zwar nicht mehr Mathematik, sondern Botanik, Zoologie und, wie ihr späterer Mann, Josef Menczel, den sie in Berlin kennenlern­te, auch Pädagogik. Im selben Jahr kam Kafka nach Berlin. Doch der Hebräisch-Unterricht war bis auf wenige Ausnahmen zu Ende. Zurück in Israel, befasste sich Josef Shlomo Menczel mit der Integratio­n junger Einwandere­r. Nach seinem Tod, 1953, gründete Puah in Beersheba im Negev die erste Gesamtschu­le Israels Kafkas Hebräischl­ehrerin das Mäd

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Entwurf eines Briefes von Franz Kafka an

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