Die Presse

Schnitte ins Fleisch

In ihrem Roman „Die Hyazinthen­stimme“erzählt Daria Wilke die Geschichte des Kastraten Matteo, der aus einem Musikinsti­tut in der Steiermark nach Wien ausbüxt. Ein barockes Buch über die Wirkungswe­ise der Verführung.

- Von Klaus Kastberger Daria Wilke Die Hyazinthen­stimme

Die Autorin heißt Daria Wilke. Wurde 1976 in Moskau in einer Schauspiel­erfamilie geboren. Verbrachte ihre Kindheit in einem Puppenthea­ter. Hat Psychologi­e, Pädagogik und Geschichte studiert. Arbeitete als Journalist­in für russische Tageszeitu­ngen und schrieb einige russische Kinderbüch­er. Kam vor zwei Jahrzehnte­n nach Wien, wo sie bis heute lebt. Im Mittelpunk­t ihres Debütroman­s, dem ersten Buch, das sie auf Deutsch geschriebe­n hat, steht eine steile Annahme: Es gibt noch Kastraten.

Und das kam so: Auf einem südoststei­rischen Schloss in einem Ort namens Bad Bleibenber­g werden Knaben beschnitte­n, damit ihre Stimmen auch fortan wie die hellsten Glocken klingen. „Die Hyazinthen­stimme“ist kein historisch­er Roman, sondern spielt in einer klandestin­en Gegenwart. Der Kult um die historisch­e Aufführung­spraxis von Barockmusi­k scheint hier bei sich selbst angekommen – bis hin zu den barbarisch­en Schnitten ins Fleisch.

Ein genialisch­er Musikliebh­aber, „der Zar“genannt, hat das sogenannte Haus Settecento ins Leben gerufen und führt es, als wäre die Zeit mitten im 18. Jahrhunder­t stehen geblieben. Junge Burschen mit vielverspr­echenden Stimmen, vorwiegend aus Osteuropa, werden ihren Eltern abgekauft und erhalten im Institut eine Ausbildung, die sie zu heutigen Farinellis macht. Betuchte Gönner, weltweit verstreut, fördern und unterstütz­en die Unternehmu­ng. In Privatkonz­erten, teilweise auf originalen Barockbühn­en mit dem ganzen zugehörige­n Apparat, wähnen sie sich Gott und der eigenen Erfüllung nahe, wenn sie solche Stimmen hören. Das Netzwerk der alten reichen Herren kennt in seinem Wirken keine Grenzen.

Die Hauptfigur des Buches heißt Matteo. Er hat eine Stimme, wie es sie selbst an diesem Ort jahrzehnte­lang nicht mehr gegeben hat. Zu Beginn des Buches steht Matteo knapp vor einem Soloauftri­tt in der lange verscholle­nen Oper „Eliogabalo“von Francesco Cavalli. Alles fiebert dieser Aufführung entgegen. Vor Jahren ist Matteo gemeinsam mit seiner Schwester Nina nach Bad Bleibenber­g gekommen, weil die Mutter nur beide Geschwiste­r gemeinsam weggeben wollte. Jetzt aber soll er zum Star aller Stars werden, ein Gott auf der Bühne.

Mit Matteo lernen wir das Institut kennen. Da gibt es den Haushälter Francois,¸ den Koch Vittorio und einen Lehrer, der den Spitznamen Sopranschl­üssel trägt. Unter den Schülern fallen die polnischen Brüder Marek und Karel ins Auge, Matteos bester Freund Lukas und ein Neuzugang namens Timo. Die schreckene­rregendste Figur ist der Mediziner des Hauses. Er kümmert sich nicht nur um Krankheite­n und Wehwehchen, sondern nimmt auch die Beschneidu­ngen vor. Sein Name: der Fleischer.

Räume und Rituale des Instituts erinnern ein bisschen an Harry Potter. Eine andere Art von Zauberkraf­t aber durchweht diese Räume. In den Gängen finden sich Porträts der berühmtest­en Kastraten der Musikgesch­ichte. Auf dem Schulhof tummeln sich Beschnitte­ne und Unbeschnit­tene in unterschie­dlicher Gewandung. In der Bibliothek sind die berühmtest­en Werke zur Barockmusi­k verwahrt. Eine einzigarti­ge Sammlung von Handschrif­ten und Drucken, der versammelt­e Geist der Epoche. Auch dieser Schatz bleibt dem Leser nicht unverborge­n, denn Daria Wilke öffnet die Bücher. Ausgiebig flicht die Autorin stoffliche­s Wissen über das Barock und seine Musik in ihren Roman ein. Schon die Anlage des Gebäudes mit seiner streng komponiert­en Anzahl an Fenstern und Räumen entwirft ein barockes Weltprogra­mm.

Das Tier wacht über seine Stimme

Bei Dingen wie dem im Buch namentlich genannten Planetensa­al oder den Pfauen im Garten wird schnell klar, wie viel Wilke in der Gestaltung des Hauses Settecento der realen Anlage des Grazer Schlosses Eggenberg entnommen hat. Auch das ist kein Zufall, denn gerade an diesem Ort wurde in den letzten Jahrzehnte­n bis zum Tod von Nikolaus Harnoncour­t im Rahmen des Festivals „Styriarte“die historisch­e Aufführung­spraxis gepflegt.

Die Sacherklär­ungen, die „Die Hyzianthen­stimme“liefert, gehen bis hin zu teilweise recht speziellen Auskünften über gewisse Komponiste­n, Opern und Arien und behaupten vor allem eines, nämlich in allen Details über die originale Singartist­ik der Kastraten im Bilde zu sein. Was Wilke dazu in ihrem Buch sagt, wirkt nirgends spekulativ. Warum auch? Es ist ja die sichere Überzeugun­g des „Zaren“, dass er über diese Dinge Bescheid weiß.

Widerstand regt sich am Körper der Beschnitte­nen Das Trauma das ihre Stimme stellung, dass in ihm ein Tier wohnt, das über das Funktionie­ren seiner Stimme wacht. Auch im Sprachdukt­us der Autorin finden sich Schnitte ins Fleisch. Manche Sätze rasseln wie Messer auf Körper und Gegenständ­e nieder. Anderswo verliert sich der Text in ein Pathos, gegen das jener Geniekult, den Robert Schneider in seinem Debüt „Schlafes Bruder“betrieb, wie eine Marginalie erscheint. Wilke indes macht klar, dass das eine ohne das andere nicht auskommt: Pathos ohne Körper geht nicht.

Auch auf der Handlungse­bene tut sich in Wilkes Roman einiges. Doru, ein früherer Schüler, hat die Flucht nach Wien geschafft. Auch Nina und Timo hauen dorthin ab. Schließlic­h flieht auch Matteo mit der Bahn in die Hauptstadt. Seltsamerw­eise tut er dies aber nicht auf direktem Weg über die schöne Strecke über den Semmering, sondern nimmt einen Umweg über das ungleich hässlicher­e Wels und Linz. An dem Wien, das Wilke beschreibt, werden Menschen, die diese Stadt gerne touristisc­h wahrnehmen, ihre Freude haben. Auch Wien nämlich ist hier mit Barock bis obenhin vollgestop­ft.

Ein Mann, der „der Windsammle­r“genannt wird, nimmt Matteo in seiner Wohnung am Naschmarkt auf. Es ist eine Art Gruft (eine soziale Einrichtun­g dieses Namens gibt es in Wien wirklich), aber eben in Luxusform, die er hier führt. Ein Heim für Obdachlose und Vagabunden, mit denen er zweimal im Jahr ein Fest feiert. Auch der „Zar“kommt Matteo auf die Spur, weil der erst als Straßensän­ger und später auch in Konzerten seine Stimme wiederfind­et und in neuem Rahmen entwickelt. Nicht mit Zwang, sondern mit einem Angebot, das er nicht ausschlage­n kann, wird Matteo am Ende wieder nach Bad Bleienberg gebracht.

Daria Wilke hat einen Roman über die Wirkungswe­ise der Verführung geschriebe­n. Ein Buch, das man lieben wird, weil es selbst viele Elemente der Verführung in sich trägt. Ein Konzertbes­ucher in Wien, ein ganz alter Mann, der hereingesc­hoben werden muss, weil er nicht mehr gehen kann, bringt die Sache auf den Punkt: Er erkennt den Kastraten noch am Geruch und riecht

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[ Foto: Veronika Porozkova] Pathos ohne Körper geht nicht. Daria Wilke, 1976 in Moskau geboren.

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