Liebe und Frieden mit Nick Cave
Nick Cave veröffentlicht sein 17. Album vorerst nur im Internet. Der Download zahlt sich aus, meint Samir H. Köck.
Schon recht seltsam, dass sich ausgerechnet Nick Cave dazu hergibt, bei der immer dreisteren Vergrämungsstrategie der Musikindustrie mitzumachen, physische Tonträger erst Wochen nach der virtuellen Veröffentlichung in Produktion zu geben. Damit sägt sich das Business den immer noch dicksten Ast ab, auf dem es sitzt. Das erinnert an die 1980er-Jahre, als behauptet wurde, die damals entsetzlich klingenden CDs hätten größere Tonqualität als die Langspielplatten. Resultat: Trotz jahrelanger Sabotage seitens der Industrie gibt es die LP immer noch.
Nick Cave kann jedenfalls auf treue Käufer von Tonträgern zählen. Die deshalb als durchaus närrisch zu interpretierende Veröffentlichungsstrategie sah nun aber vor, dass „Ghosteen“, Caves 17. Studioalbum, am 3. Oktober um 23 Uhr auf YouTube das elektronische Licht des Lebens erblickte. Das war auch in anderer Hinsicht ein Tabubruch. Zum ersten Mal konnten die Fans nicht allein sein mit dem neuen Opus, sondern in einer Flut von Internet-Kommentaren, von „Not so good as Cliff Richard“bis hin zu Vergleichen mit Nico und Angelo Badalamenti. Das, wofür sogenannte soziale Medien bekannt sind, begann sogleich: Streit und Hader. Werturteile wurden wie Schwerter gezogen. Statt sich ins neue Werk zu versenken, wurde polemisiert. „Die Texte sind voll Klischees und schwachem Symbolismus, die Musik ist nichts als Synthesizer und Rezitation“, schrieb einer, ein anderer antwortete: „Wenn du McMusik willst, bist du im falschen Restaurant.“
Schlechte Voraussetzungen dafür, sich mit den neuen, sehr ruhigen Liedern anzufreunden. Überhaupt muss man sich fragen, wie sich Schlagzeuger Thomas Wydler in den vier Studios in Malibu, Brighton, Berlin und Los Angeles die Zeit vertrieben hat. Von Rhythmus sind nämlich nur Spurenelemente auf dem Doppelalbum enthalten. Dafür hört man viele Flöten und Geigen und viel Vibrafon. Und nicht nur Multiinstrumentalist Warren Ellis, sondern auch Cave persönlich streichelte die Synthesizer.
Elvis ist wieder da!
Dräuend hebt das Eröffnungslied „Spinning Song“an. Ganz so, als wäre es in einem von Nebel umgebenen Kloster am Berg aufgenommen. In sanftem Deklamationston führt Cave ein – und zurück zu einem seiner Lieblingsthemen: „Once there was a song. The song yearned to be sung. It was a spinning song about the king of Rock ’n’ Roll.“In märchengleichem Duktus führt der Liedtext über die Bühnen von Las Vegas in einen Schlossgarten und dort hinauf zu einem Vogelnest am höchsten Ast eines Baumes. „In the nest was a bird, the bird had a wing, the wing had a feather, spin the feather and sing the wind. The king in time died, the queen’s heart broke like a vow.“So weit gewohnt albtraumhaft. Dann die Überraschung. Mit der weichsten seiner Stimmen jubiliert Cave im Kirchenton: „I love you“und „Peace will come in time. A time will come for us.“Heiliger Bimbam! Der Mann wagt sich ins Weiche vor. Der Sänger, der einst wie kein anderer in seinen Liedern das Böse heroisierte, ist nun mild wie ein Altweibersommerlüfterl.
„Ghosteen“schließt eine Trilogie ab, die mit dem gleichfalls sanften „Push The Sky Away“2012 begann und mit dem etwas experimentelleren „Skeleton Tree“2016 fortgesetzt wurde. In dieser Zeit haben sich die Auftritte von Nick Cave immer mehr ins Dialogische verändert. Auf der letzten Tour durften Fans blöde und kluge Fragen stellen, Cave hat sie alle beantwortet. Diese doch etwas seltsam anmutende Tuchfühlung mit den Freunden seiner Musik war nicht voraussehbar. Ausgelöst wurde sie durch den tragischen Tod seines Sohnes Arthur im Jahr 2015. Der hat Cave und seine Sicht auf die Menschen verändert. Er hätte jetzt „a deep feeling toward other people and an absolute understanding of their suffering“, sagte er selbst. Und so klingt „Ghosteen“wie das Manifest von jemandem, der die Welt mit neuen Augen sieht, dem noch die kleinsten Dinge wundersam vorkommen.
Die acht Lieder des ersten Teils üben sich in vorsichtigem Optimismus, die drei Stücke von Platte zwei tauchen wieder ins Schattige, in dem Cave eigentlich sein Habitat hat. „A spiral of children climbs up to the sun“, singt er in „Sun Forest“: Sogar die Apokalypse stellt er sich als ästhetisch gewinnbringendes Spektakel vor. „There is nothing more valuable than beauty, they say.“Dem stimmt er offenbar zu.
Jesus als Lichtteilchen
Auch Jesus geistert wieder durch seine Lieder. „Jesus lying in his mother’s arms is a photon released from a dying star“, singt er in „Fireflies“. Trotz solcher Rückfälle in Bangheit endet das Album mit Zuversicht. Im Schlussbild sitzt er in Hollywood, umschlichen von „Cougars“, also älteren, sexuell aktiven Damen, und freut sich vorsichtig seines Lebens. „And I’m just waiting now, for my time to come.“Als Künstler ist Cave jetzt schon in der Form seines Lebens.