Wehrlos ums Wahlrecht umgefallen
Rechtsschutzlücke. Briefwähler, deren Wahlkarte falsch zugestellt oder von der Post fälschlich einer namensgleichen Person ausgefolgt wird, haben keinen wirksamen Rechtsschutz.
Bei der Nationalratswahl vor einer Woche hat technisch alles geklappt, auch das Handling von über einer Million Wahlkarten. Fast perfekt, möchte man meinen, denn es gibt doch einige Opfer des Systems, die per Briefwahl wählen wollten, aber nicht konnten. Es bedarf keiner Begründung, dass es hier um die Ausübung eines politischen Grundrechts geht. Umso schwerer wiegt das Rechtsdilemma, das durch das Verbot entsteht, Duplikate auszustellen. Das gilt auch, wenn jemand anderer versehentlich die bereits hinterlegte Wahlkarte abholt und gutgläubig die Stimme abgibt; und es gilt auch, wenn die weniger wohlmeinende Nachbarin die Wahlkarte entgegennimmt und der Altpapiertonne anvertraut.
Diese Fehler sind im Vorfeld der Wahl bei der Ausfolgung oder Zustellung der Wahlkarten in Einzelfällen passiert und konnten nicht mehr repariert werden. Ein Anwalt mit einem zwar häufigen Familiennamen, dessen Identität aber durch den (seltenen) Vornamen und das (auf Wahlkarten zwingend erforderliche) Geburtsdatum eindeutig abgrenzbar war, und ein Unternehmerpaar, das auch alles richtig gemacht hatte, sind die Opfer. Ärgerlich ist, dass die Betroffenen in ein Rechtsvakuum geraten, das es laut Verfassungsgerichtshof (VfGH) nicht geben dürfte. Denn niemand darf, so lautet ein Stehsatz zum Rechtsstaatsprinzip, endgültig mit den Folgen einer potenziell rechtswidrigen Entscheidung belastet werden.
Wahl- und Stimmrecht sind verfassungsgesetzlich gewährleistet, zusätzlich durch Art 3 des ersten Zusatzprotokolls der EMRK bei Parlamentswahlen (das sind bei uns die Europawahlen, die Nationalratswahl und die Wahl der Landtage) geschützt. Wird einem Staatsbürger, der das Wahlalter erreicht hat und der nicht von einem inländischen Strafgericht vom Wahlrecht ausdrücklich ausgeschlossen worden ist, das Recht zu wählen verweigert, verletzt die Behörde dessen politisches Grundrecht zu wählen. Aber bekämpfbar ist die Negierung des Wahlrechts nur in jenen Fällen, die durch Bescheid oder Zwangsakt einer Behörde direkt erfolgen: zum Beispiel durch eine ungerechtfertigte Streichung aus der Wählerevidenz seitens einer Gemeinde. Hier besteht im Vorfeld einer Nationalratswahl die Möglichkeit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und nötigenfalls einer Erkenntnisbeschwerde an den VfGH.
Wer aber schützt das Wahlrecht der Betroffenen, die im Wählerverzeichnis eingetragen sind und deren Wahlkarte nicht eintrifft oder einem Dritten ausgefolgt wird? Im Fall des Anwalts mit dem häufig vorkommenden Familiennamen wählte eine betagte Dame desselben Familiennamens, nachdem ihr die Post die hinterlegte Sendung (unkorrekterweise) ausgefolgt hatte; die Stimme der Pensionistin wurde samt dem von der Wahlbehörde lokalisierten Kuvert vernichtet, die Betroffene konnte eine neue Wahlkarte erhalten (sie hatte eine beantragt, aber zunächst ja nicht erhalten), nicht aber das eigentliche „Opfer“, denn Duplikate sind unzulässig – im Fall der Pensionistin war es ja die Erstausstellung der richtigen Wahlkarte, also kein Duplikat. Und ihre erste Stimmabgabe führte nicht zur Ungültigkeit, sondern zur Nichtigkeit, sodass sie einen zweiten Versuch hatte, nicht aber der betroffene, an der Situation völlig unschuldige Anwalt.
Auch das Ehepaar, das am 29. September auf Tauchurlaub fahren wollte, dessen zweihundert Meter vom Betrieb entfernt wohnende Nachbarin aber die Wahlkarten wegwarf, erhielt keine Duplikate, wie es der Nationalratswahlordnung (NRWO) auch entspricht.
Häufen sich solche Fälle, dann kann auch hilfsweise eine Wahlanfechtung nach Art 141 B-VG (ähnlich wie 2016 zur Stichwahl des Bundespräsidenten mit darauffolgender Wahlwiederholung) sinnvoll sein. Grundsätzlich kann jede wahlwerbende Gruppe durch ihren zustellungsbevollmächtigten Vertreter in einer Wahlanfechtung (binnen vier Wochen nach Kundmachung des Endergebnisses) jede Rechtswidrigkeit des Verfahrens aufgreifen, so auch den unzulässigen Ausschluss Wahlberechtigter von der Stimmabgabe. Allerdings muss hier die Möglichkeit des Einflusses auf das Wahlergebnis auch zahlenmäßig gegeben
In den genannten Fällen würde es aber nachträglich auch nichts mehr nützen, wenn zum Beispiel die rechtswidrige Nichtzustellung als qualifiziertes Unterlassen und somit als bekämpfbare behördliche Maßnahme gewertet würde (was fraglich ist). Denn bis das BVwG oder der VfGH entschieden haben, ist natürlich längst die Wahl vorbei. Alles in allem sollte daher die NRWO novelliert werden, um in begründeten Fällen, in denen nachweisbar noch keine Stimmabgabe erfolgen konnte, eine neue Wahlkarte ausstellen zu dürfen oder die Möglichkeit der Stimmabgabe im Wahllokal zu ermöglichen. Denn wie es in der Wahlwerbung, implizit aber auch in der Verfassung heißt: In der Demokratie zählt jede Stimme!