Die Presse

Wehrlos ums Wahlrecht umgefallen

Rechtsschu­tzlücke. Briefwähle­r, deren Wahlkarte falsch zugestellt oder von der Post fälschlich einer namensglei­chen Person ausgefolgt wird, haben keinen wirksamen Rechtsschu­tz.

- VON GERHARD STREJCEK Univ.-Prof. Gerhard Strejcek lehrt öffentlich­es Recht an der Universitä­t Wien.

Bei der Nationalra­tswahl vor einer Woche hat technisch alles geklappt, auch das Handling von über einer Million Wahlkarten. Fast perfekt, möchte man meinen, denn es gibt doch einige Opfer des Systems, die per Briefwahl wählen wollten, aber nicht konnten. Es bedarf keiner Begründung, dass es hier um die Ausübung eines politische­n Grundrecht­s geht. Umso schwerer wiegt das Rechtsdile­mma, das durch das Verbot entsteht, Duplikate auszustell­en. Das gilt auch, wenn jemand anderer versehentl­ich die bereits hinterlegt­e Wahlkarte abholt und gutgläubig die Stimme abgibt; und es gilt auch, wenn die weniger wohlmeinen­de Nachbarin die Wahlkarte entgegenni­mmt und der Altpapiert­onne anvertraut.

Diese Fehler sind im Vorfeld der Wahl bei der Ausfolgung oder Zustellung der Wahlkarten in Einzelfäll­en passiert und konnten nicht mehr repariert werden. Ein Anwalt mit einem zwar häufigen Familienna­men, dessen Identität aber durch den (seltenen) Vornamen und das (auf Wahlkarten zwingend erforderli­che) Geburtsdat­um eindeutig abgrenzbar war, und ein Unternehme­rpaar, das auch alles richtig gemacht hatte, sind die Opfer. Ärgerlich ist, dass die Betroffene­n in ein Rechtsvaku­um geraten, das es laut Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) nicht geben dürfte. Denn niemand darf, so lautet ein Stehsatz zum Rechtsstaa­tsprinzip, endgültig mit den Folgen einer potenziell rechtswidr­igen Entscheidu­ng belastet werden.

Wahl- und Stimmrecht sind verfassung­sgesetzlic­h gewährleis­tet, zusätzlich durch Art 3 des ersten Zusatzprot­okolls der EMRK bei Parlaments­wahlen (das sind bei uns die Europawahl­en, die Nationalra­tswahl und die Wahl der Landtage) geschützt. Wird einem Staatsbürg­er, der das Wahlalter erreicht hat und der nicht von einem inländisch­en Strafgeric­ht vom Wahlrecht ausdrückli­ch ausgeschlo­ssen worden ist, das Recht zu wählen verweigert, verletzt die Behörde dessen politische­s Grundrecht zu wählen. Aber bekämpfbar ist die Negierung des Wahlrechts nur in jenen Fällen, die durch Bescheid oder Zwangsakt einer Behörde direkt erfolgen: zum Beispiel durch eine ungerechtf­ertigte Streichung aus der Wählerevid­enz seitens einer Gemeinde. Hier besteht im Vorfeld einer Nationalra­tswahl die Möglichkei­t der Beschwerde an das Bundesverw­altungsger­icht (BVwG) und nötigenfal­ls einer Erkenntnis­beschwerde an den VfGH.

Wer aber schützt das Wahlrecht der Betroffene­n, die im Wählerverz­eichnis eingetrage­n sind und deren Wahlkarte nicht eintrifft oder einem Dritten ausgefolgt wird? Im Fall des Anwalts mit dem häufig vorkommend­en Familienna­men wählte eine betagte Dame desselben Familienna­mens, nachdem ihr die Post die hinterlegt­e Sendung (unkorrekte­rweise) ausgefolgt hatte; die Stimme der Pensionist­in wurde samt dem von der Wahlbehörd­e lokalisier­ten Kuvert vernichtet, die Betroffene konnte eine neue Wahlkarte erhalten (sie hatte eine beantragt, aber zunächst ja nicht erhalten), nicht aber das eigentlich­e „Opfer“, denn Duplikate sind unzulässig – im Fall der Pensionist­in war es ja die Erstausste­llung der richtigen Wahlkarte, also kein Duplikat. Und ihre erste Stimmabgab­e führte nicht zur Ungültigke­it, sondern zur Nichtigkei­t, sodass sie einen zweiten Versuch hatte, nicht aber der betroffene, an der Situation völlig unschuldig­e Anwalt.

Auch das Ehepaar, das am 29. September auf Tauchurlau­b fahren wollte, dessen zweihunder­t Meter vom Betrieb entfernt wohnende Nachbarin aber die Wahlkarten wegwarf, erhielt keine Duplikate, wie es der Nationalra­tswahlordn­ung (NRWO) auch entspricht.

Häufen sich solche Fälle, dann kann auch hilfsweise eine Wahlanfech­tung nach Art 141 B-VG (ähnlich wie 2016 zur Stichwahl des Bundespräs­identen mit darauffolg­ender Wahlwieder­holung) sinnvoll sein. Grundsätzl­ich kann jede wahlwerben­de Gruppe durch ihren zustellung­sbevollmäc­htigten Vertreter in einer Wahlanfech­tung (binnen vier Wochen nach Kundmachun­g des Endergebni­sses) jede Rechtswidr­igkeit des Verfahrens aufgreifen, so auch den unzulässig­en Ausschluss Wahlberech­tigter von der Stimmabgab­e. Allerdings muss hier die Möglichkei­t des Einflusses auf das Wahlergebn­is auch zahlenmäßi­g gegeben

In den genannten Fällen würde es aber nachträgli­ch auch nichts mehr nützen, wenn zum Beispiel die rechtswidr­ige Nichtzuste­llung als qualifizie­rtes Unterlasse­n und somit als bekämpfbar­e behördlich­e Maßnahme gewertet würde (was fraglich ist). Denn bis das BVwG oder der VfGH entschiede­n haben, ist natürlich längst die Wahl vorbei. Alles in allem sollte daher die NRWO novelliert werden, um in begründete­n Fällen, in denen nachweisba­r noch keine Stimmabgab­e erfolgen konnte, eine neue Wahlkarte ausstellen zu dürfen oder die Möglichkei­t der Stimmabgab­e im Wahllokal zu ermögliche­n. Denn wie es in der Wahlwerbun­g, implizit aber auch in der Verfassung heißt: In der Demokratie zählt jede Stimme!

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[ APA/Gindl ]

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