Wenn der Krieg kommt
Eine Stadt an der Grenze zum kurdisch beherrschten Nordsyrien erlebte die Vorbereitungen der Armee zum Angriff. Man will eine 100 Kilometer lange, rund 30 km tiefe „Sicherheitszone“als Schutz vor Terroristen schaffen. Eine Reportage.
Eine Stadt an der Grenze zum kurdisch beherrschten Nordsyrien erlebte die Vorbereitungen der Armee. Man will eine Schutzzone schaffen.
Spätsommerliche Abendsonne liegt über den Baumwollfeldern um Akcakale,¸ einer türkischen Kleinstadt an der Grenze zu Nordwestsyrien. Bäuerinnen in bunten Kopftüchern arbeiten gebückt in den Feldern und pflücken weiße Büschel von den Stauden; halb nackte Kleinkinder spielen an der Schotterstraße, die an der Grenze entlang verläuft.
Ruhe und Frieden liegen über dem Land – doch enden so wie der Schotterweg jäh an frisch aufgewühlten Erdhügeln mitten in den Feldern. Ein Kanonenrohr ragt aus dem Erdreich hervor, ein Wachposten hebt den Arm. Die Bauern werden nicht mehr viel Zeit haben, ihre Ernte einzubringen: Hier sammelt sich die türkische Armee seit geraumer Zeit für einen geplanten Einmarsch nach Syrien, in dessen kurdisch dominierte Region im Nordwesten.
„Aufnahmen sind nicht erlaubt, sagt mein Kommandant“, erklärt der Soldat durchs Autofenster; die Straße sei gesperrt. Erst seit einigen Tagen ist diese Einheit hier am Werk, aber ihre Vorbereitungen sind schon sehr weit fortgeschritten. Eine Haubitze und mehrere Schützenpanzer sind eingegraben, ein halbes Dutzend Mannschaftszelte aufgeschlagen; die Erde ist auf etwa der Fläche eines Fußballfelds aufgewühlt und zu Hügeln aufgeworfen, in Tarnfarben gestrichene Bagger stehen bereit für weitere Arbeiten. Ein Spürhund begleitet einen der Soldaten – das Grenzgebiet ist noch von früher vermint. Und rings um diese Kriegsvorbereitungen geht die Baumwollernte weiter.
100 Kilometer lange Front
Rund 20 Kilometer östlich von Akcakale¸ spielt sich das ab, aber nicht nur da: Über mindestens 100 Kilometer längs der Grenze sind türkische Truppen in Stellung gegangen. Die Vorbereitungen seien abgeschlossen, teilte das Verteidigungsministerium am Dienstag mit, nicht zuletzt für einen vorbereitenden Artillerieschlag auf Stellungen der Kurdenmiliz YPG drüben in Syrien.
Sie ist das Hauptziel des geplanten Angriffs. Die Miliz, ein Ableger der Terrororganisation PKK, hatte jahrelang zusammen mit den USA gegen den Islamischen Staat (IS) gekämpft und dafür Schutz zum Aufbau eines Autonomiegebiets in Nordostsyrien erhalten. Ankara sieht das als „Terror-Korridor“, der zerstört werden muss, USA hin oder her.
Regierungsnahe Medien in der Türkei wollen erfahren haben, wie das geschehen soll. Zunächst will man die YPG mit Artillerie- und Luftbombardements im Grenzgebiet aufweichen und zurückdrängen. Dann sollen türkische Elitetruppen und protürkische syrische Rebellengruppen angreifen.
Schwere Kämpfe erwartet
Ein Spaziergang dürfte der Feldzug nicht werden. Die YPG hat gut ausgebildete Einheiten mit guter Ausrüstung und langer Kampferfahrung. US-Waffenlieferungen sollen bis in die vergangenen Tage hinein weitergegangen sein.
Im Zentrum von Akcakale¸ haben sich Einwohner am geschlossenen Grenzübergang versammelt, um in der Abendsonne über Mauer und Stacheldraht ins syrische Tel Abiad zu spähen. „Sieh mal, dort stehen sie auch und schauen, genau wie wir“, sagt ein Mann im Kaftan und weist mit dem Kinn auf eine Gruppe Gestalten, die auf einem Dach jenseits der Grenze zu stehen. „Sie warten auch darauf, was nun passiert, genau wie wir.“Am Wochenende sollen die Amerikaner Tel Abiad verlassen haben, hat er gehört; jederzeit könne es nun losgehen mit der Offensive.
Reste der Bagdad-Bahn
An der Mauer laufen Schienen entlang, auf einem Gleis steht ein uralter Waggon aus Holz. Kommt man zu nah an die Gleise, treten Soldaten hervor und entsichern ihre Gewehre. Die Schienen gehören zur Bagdad-Bahn, die deutsche Banken und Bauherrn zu Beginn des 20. Jahrhunderts hier bauten. Von Berlin bis Bagdad sollte die Trasse reichen und dem Deutschen Reich via Basra den Zugang zum Persischen Golf eröffnen. Heute fährt die Bahn nicht mehr, doch die Gleise markieren weiter die Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Eine eiserne Erinnerung daran, dass auch Deutschland an historischen Verwerfungen in der Region, deren Folgen bis heute währen, nicht ganz unbeteiligt war.
Keine 100 Jahre alt ist diese Grenze, erinnert Ibrahim, ein Mittvierziger, der in Akcakale¸ mit Gebetsketten handelt. Die Menschen beidseits sind vielfach miteinander verwandt. Bei vielen der um die 50.000 Flüchtlinge in Akcakale¸ handelt es sich um Leute aus Tel Abiad, die seit Kriegsausbruch in Syrien 2011 kamen und von ihren Verwandten aufgenommen wurden – sie haben die Einwohnerzahl der Kleinstadt mindestens verdoppelt und zusammen mit anderen Flüchtlingen vervierfacht.
Ibrahim hat mehr 20 Onkel und Cousins aus Syrien, die mit ihren Familien hier sind. Die türkischen Verwandten halfen ihnen, Fuß zu fassen, der Staat ebenfalls, erzählt Ibrahim. Was könne man auch anderes tun, sagt er: „Es ist ein Gebot der Menschlichkeit.“
Gleichmut vor dem Sturm
Dem nahenden Einmarsch im Nachbarland sehen die meisten Menschen in Akcakale¸ eigentlich gleichmütig entgegen. Empörung oder Widerworte gibt es nicht, anders als in mehrheitlich kurdischen Städten der Region. In Akca-¸ kale tragen die Männer nicht Pluderhosen wie die Kurden, sondern Kaftan: Die Kleinstadt ist von der arabischstämmigen Minderheit in der Türkei dominiert. Begeistert sind diese Leute aber auch nicht: Der schlechteste Frieden sei einem Krieg vorzuziehen, sagt der Automechaniker Mehmet, der keine 100 Meter vor der Grenze seine Garage mit Wasser ausspritzt.
Noch bevor der erste Schuss gefallen ist, gibt es den ersten Kollateralschaden: die Beziehungen zu Washington. Seit Langem funkt es zwischen den Nato-Partnern wegen der US-Unterstützung für die YPG, doch nun sind die Differenzen so eskaliert, dass der Schaden irreparabel sein könnte. USPräsident Donald Trump hatte zwar den Sanktus zum Einmarsch signalisiert und US-Soldaten in Syrien aus dem Grenzraum geholt, aber danach gedroht, er werde die türkische Wirtschaft „total zerstören“, sollten sich Ankaras Truppen „unmenschlich“verhalten (siehe auch die Geschichte rechts).
Erdogan˘ muss es jetzt fast tun
Frechheit, entgegnet die türkische Regierungspresse, selbst Erdogans˘ innertürkische Gegner rufen ihn auf, trotz der US-Drohungen am Angriff festzuhalten. Jetzt müsse das erst recht durchgezogen werden, fordert etwa die nationalistische Oppositionspolitikerin Meral Aksener.¸ Selbst wenn er wollte, kann Erdogan˘ kaum noch zurück.
So kommt der Krieg also wohl nach Akcakale.¸ Und das nicht zum ersten Mal: Vor exakt sieben Jahren, im Oktober 2012, starben hier fünf Menschen durch Granaten, die in Syrien abgefeuert worden waren. Damals kämpften syrische Regierungstruppen jenseits der Grenze gegen Rebellen.
Heute fürchten viele Einwohner, dass ihre Stadt wieder zur Kampfzone werden könnte. Aber von Panik ist trotz des türkischen Aufmarschs nichts zu sehen. Schulkinder laufen nach dem Unterricht mit bunten Rucksäcken nach Hause, auf den Feldern wird geerntet, Gemüsehändler stellen Kisten mit Melanzani und Paprika vor ihre Läden.
Ein gewisser Hauch von Fatalismus liegt über der Stadt. „Bei uns im Haus schlugen damals auch Kugeln ein“, erzählt Mechaniker Mehmet über den Beschuss aus Syrien des Jahres 2012. Fliehen wird er indes auch diesmal nicht: „In dieser Weltgegend kann es dich überall erwischen.“