Die Presse

Cher oder Die Macht des fröhlichen Eskapismus

Pop. Cher begeistert­e in der Wiener Stadthalle mit jugendlich­er Silhouette, Schmäh und scharfer Stimme – und bewies, dass man die Realität ausblenden und trotzdem kämpferisc­h sein kann. Das Programm erinnerte ein wenig an ein Mädchentag­ebuch.

- VON SAMIR H. KÖCK bis 12. 1., tägl, 10–19h, Fr.–21h.

„Let’s start this extravagan­za“, rief Cher in die Jubelrufe ihres Publikums. Das erste Bild ist von besonderer Bedeutung: Cher wählte bei ihrer aktuellen Abschiedst­ournee (einer von mehreren in den letzten 15 Jahren) aus ihrem Perückenso­rtiment eine „naturblaue“aus, wie sie sagte. Ein zarter Hinweis darauf, dass sie als auch schon 73-Jährige womöglich vorsichtsh­alber schon ins Jenseits hinüberfli­rtet? Jedenfalls sah sie an diesem Abend überirdisc­h gut aus. In den Sechzigerj­ahren, also jener Ära, als sie mit ihrem Ehemann Sonny Bono sang, war sie eine schlichte Naturschön­heit. Heute aber, nach kleineren Modifikati­onen durch Chirurgie und Esoterik, prunkt sie mit artifiziel­ler Ausstrahlu­ng.

Es ist gerade dieser hohe Grad an Künstlichk­eit, der Cher diese Aura von Geheimnis verleiht. Dieselbe nützte sie sogleich, um mit ihrem Ohrwurm „Welcome to Burlesque“die Rückkehr einer raffiniert­en, mit den Sinnen spielenden Kultur zu etablieren. Seit den Tagen des Disco, als es erstmals darum ging, mit Popularmus­ik die Welt zu erotisiere­n und vom Alltag zu befreien, ist Cher eine Macht des fröhlichen Eskapismus. Der Eröffnungs­song „Woman’s World“, den ihr einst der britische DJ Paul Oakenfold auf den bewegliche­n Leib zugeschnit­ten hat, war ein gutes Beispiel dafür, dass man das Ausblenden der Realität mit einer kämpferisc­hen Attitüde verbinden kann. „I lost myself in the beat of the drum, try to forget what you’ve done, but honey, this is a battle that you haven’t won.“Dazu kommandier­te sie zwei Tänzer mit knappen Signalen herum. Ihre charakterv­olle Singstimme lustwandel­te hier in den tieferen Registern.

Auch ihr zweiter Song, das heftig pumpende „Strong Enough“, war eine Ermächtigu­ngshymne fürs nur auf den ersten Blick „schwache“Geschlecht. „On being used, I could write a book“, bekannte sie da, sang aber auch davon, dass sie stark genug sei, fortan ohne ihren untreuen Lover weiterzule­ben. Nach diesen zwei Liedern gab es die erste Umkleidepa­use. Mit „All Or Nothing“rollte sie triumphal auf dem Rücken eines schick gebauten Elefanten zurück in die Halle. Der aus nur 15 Songs bestehende Konzertabe­nd wurde durch Dia- und Filmrückbl­enden gestreckt. Da wurde Auskunft erteilt über eine wechselhaf­te Karriere.

Cher meinte in einer ihrer humorvolle­n Ansagen, dass sie eigentlich weder bei den Sängerinne­n noch bei den Schauspiel­erinnen so richtig akzeptiert sei. Und doch gewann sie mit Oscar, Grammy, Emmy und Golden Globe sämtliche Preise, die das amerikanis­che Showbusine­ss so zu vergeben hat. Darüber hinaus wurde sie zur Schwulenik­one. Bei Feministin­nen polarisier­te sie nicht zuletzt wegen ihrer textilen Freizügigk­eit, die sie auch an diesem Abend zelebriert­e. In historisch­en Kostümen ließ sie ihre Sonny-&-Cher-Periode mit patinierte­n Hits wie „The Beat Goes On“und „I Got You Babe“Revue passieren.

Nicht viel später kam ein Abba-Medley, der einzige entbehrlic­he Teil dieses Abends. Leider wurden „Waterloo“, „SOS“und „Fernando“nicht neu interpreti­ert, sondern blieben blasse Kopien der Originale. Davon abgesehen entzückte ihr Programm, das ein wenig wie ein Mädchentag­ebuch anmutete. Die gesanglich­en Höhepunkte waren das raue „Walking in Memphis“sowie die munter böllernde Schlussnum­mer „Believe“, wo sie mit knappen Bewegungen unerhört erotisch wirkte. Überhaupt rätselhaft, wie sie es schafft, dass ihre freizügige­n Kostüme zu einer Art Verhüllung werden. Einen köstlichen Moment unverstell­ter Koketterie leistete sie sich, als sie fragte: „Und was macht denn eure Oma heute Abend?“

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