Cher oder Die Macht des fröhlichen Eskapismus
Pop. Cher begeisterte in der Wiener Stadthalle mit jugendlicher Silhouette, Schmäh und scharfer Stimme – und bewies, dass man die Realität ausblenden und trotzdem kämpferisch sein kann. Das Programm erinnerte ein wenig an ein Mädchentagebuch.
„Let’s start this extravaganza“, rief Cher in die Jubelrufe ihres Publikums. Das erste Bild ist von besonderer Bedeutung: Cher wählte bei ihrer aktuellen Abschiedstournee (einer von mehreren in den letzten 15 Jahren) aus ihrem Perückensortiment eine „naturblaue“aus, wie sie sagte. Ein zarter Hinweis darauf, dass sie als auch schon 73-Jährige womöglich vorsichtshalber schon ins Jenseits hinüberflirtet? Jedenfalls sah sie an diesem Abend überirdisch gut aus. In den Sechzigerjahren, also jener Ära, als sie mit ihrem Ehemann Sonny Bono sang, war sie eine schlichte Naturschönheit. Heute aber, nach kleineren Modifikationen durch Chirurgie und Esoterik, prunkt sie mit artifizieller Ausstrahlung.
Es ist gerade dieser hohe Grad an Künstlichkeit, der Cher diese Aura von Geheimnis verleiht. Dieselbe nützte sie sogleich, um mit ihrem Ohrwurm „Welcome to Burlesque“die Rückkehr einer raffinierten, mit den Sinnen spielenden Kultur zu etablieren. Seit den Tagen des Disco, als es erstmals darum ging, mit Popularmusik die Welt zu erotisieren und vom Alltag zu befreien, ist Cher eine Macht des fröhlichen Eskapismus. Der Eröffnungssong „Woman’s World“, den ihr einst der britische DJ Paul Oakenfold auf den beweglichen Leib zugeschnitten hat, war ein gutes Beispiel dafür, dass man das Ausblenden der Realität mit einer kämpferischen Attitüde verbinden kann. „I lost myself in the beat of the drum, try to forget what you’ve done, but honey, this is a battle that you haven’t won.“Dazu kommandierte sie zwei Tänzer mit knappen Signalen herum. Ihre charaktervolle Singstimme lustwandelte hier in den tieferen Registern.
Auch ihr zweiter Song, das heftig pumpende „Strong Enough“, war eine Ermächtigungshymne fürs nur auf den ersten Blick „schwache“Geschlecht. „On being used, I could write a book“, bekannte sie da, sang aber auch davon, dass sie stark genug sei, fortan ohne ihren untreuen Lover weiterzuleben. Nach diesen zwei Liedern gab es die erste Umkleidepause. Mit „All Or Nothing“rollte sie triumphal auf dem Rücken eines schick gebauten Elefanten zurück in die Halle. Der aus nur 15 Songs bestehende Konzertabend wurde durch Dia- und Filmrückblenden gestreckt. Da wurde Auskunft erteilt über eine wechselhafte Karriere.
Cher meinte in einer ihrer humorvollen Ansagen, dass sie eigentlich weder bei den Sängerinnen noch bei den Schauspielerinnen so richtig akzeptiert sei. Und doch gewann sie mit Oscar, Grammy, Emmy und Golden Globe sämtliche Preise, die das amerikanische Showbusiness so zu vergeben hat. Darüber hinaus wurde sie zur Schwulenikone. Bei Feministinnen polarisierte sie nicht zuletzt wegen ihrer textilen Freizügigkeit, die sie auch an diesem Abend zelebrierte. In historischen Kostümen ließ sie ihre Sonny-&-Cher-Periode mit patinierten Hits wie „The Beat Goes On“und „I Got You Babe“Revue passieren.
Nicht viel später kam ein Abba-Medley, der einzige entbehrliche Teil dieses Abends. Leider wurden „Waterloo“, „SOS“und „Fernando“nicht neu interpretiert, sondern blieben blasse Kopien der Originale. Davon abgesehen entzückte ihr Programm, das ein wenig wie ein Mädchentagebuch anmutete. Die gesanglichen Höhepunkte waren das raue „Walking in Memphis“sowie die munter böllernde Schlussnummer „Believe“, wo sie mit knappen Bewegungen unerhört erotisch wirkte. Überhaupt rätselhaft, wie sie es schafft, dass ihre freizügigen Kostüme zu einer Art Verhüllung werden. Einen köstlichen Moment unverstellter Koketterie leistete sie sich, als sie fragte: „Und was macht denn eure Oma heute Abend?“