Die Presse

„Sehen, wo sie gelebt haben“

Jewish Welcome Service. Ihre Vorfahren entkamen dem Holocaust: Wie sich vier amerikanis­che Cousinen dem Wien und der Geschichte ihrer Eltern nähern.

- VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH

Als sich in San Francisco die Frauen im Zuge der MeTooBeweg­ung zu Protestmär­schen formierten, da blieb Rebecca Grossbard zu Hause. Nicht, dass sie die Anliegen ihrer demonstrie­renden Freundinne­n nicht geteilt hätte. „Aber ich fühle mich nicht wohl in Menschenme­ngen und Kundgebung­en.“

Ob die Angst ihre eigene ist oder die ihrer Mutter, das kann die schmale, dunkelhaar­ige Logopädin, die Tai Chi und Qi Gong unterricht­et, nicht so genau sagen. In solchen Momenten überlagern sich die Kontinente und die Generation­en. Irgendwo sind dann immer auch die Parolen skandieren­den Menschen um die Votivkirch­e präsent, und ihre Mutter, die sich vor Angst kaum mehr bewegen kann.

Es ist ein sonniger Mittwochna­chmittag in der Wiener Hofburg. Der Bundespräs­ident hat gerade gesprochen, hat den versammelt­en Gästen des Jewish Welcome Service erklärt, dass sie „ein Teil Österreich­s“sind. Dieses Österreich gilt es für viele der aus aller Welt Angereiste­n freilich erst langsam zu entdecken. Sie habe keine Ahnung gehabt, wie schön dieses Wien sei, sagt Anita Baron, und ihre Stimme bricht, als sie sich endlich vorstellen kann, „welches Leben sie hier gehabt haben, und was ihnen von heute auf morgen weggenomme­n worden ist“.

Sie, das sind sechs Teenager, teils Geschwiste­r, die es auf abenteuerl­ichen Wegen nach New York geschafft haben. Ihre Kinder, die Schwestern Helen Locke und Ruth Rotkowitz und deren Cousinen Anita Baron und Rebecca Grossbard, sitzen nun auf kleinen goldenen Stühlchen der Hofburg, voll Anerkennun­g, dass sich das offizielle Österreich, trotz rechtspopu­listischer Töne dies- wie jenseits des Atlantiks, um sie bemüht. Erfahren haben sie von dem Programm von einer weiteren Cousine, die allerdings schon im Vorjahr zum Zug gekommen war.

Helen Locke und Ruth Rotkowitz und deren Cousinen Anita Baron und Rebecca Grossbard sind Nachkommen von Wienern, die im Teenageral­ter dem Holocaust entkamen. Sie waren auf Einladung des Jewish Welcome Service in Wien. Die 1980 gegründete Non-Profit-Organisati­on hat das Ziel, vor den Nazis geflohene Wiener und deren Nachkommen mit dem Wien von heute bekannt zu machen. Dazu gehören Besuche im Rathaus und beim Bundeskanz­ler, aber auch in der Synagoge und beim Heurigen. Von den sechs Teenagern lebt heute nur noch die Mutter von Helen und Ruth. Als Helen sie fragte, ob sie Wien von ihr grüßen sollten, hatte sie nur abgewinkt. „Unsere Mutter schaut nicht gern zurück. Aber sie unterstütz­t, dass wir gemeinsam hier sind.“

Die genauen Details ihrer Familienge­schichte haben sich die vier Cousinen erst in den vergangene­n Jahren zusammenge­tragen. Ausschlagg­ebend war der Tod von Rebeccas Vater, dem Bruder von Helen und Ruths Mutter. Er, der so viel überlebt hatte, war beim Spaziergan­g mit dem Hund überfahren worden. Kurz zuvor hatte Rebecca begonnen, Interviews mit ihm zu führen. „Ich hatte seine Geschichte notiert“, erzählt Rebecca, „aber ich wollte ihm dazu noch viele Fragen stellen. Als wir es nicht mehr konnten, begannen wir erst recht, Fragen zu stellen.“

„Den Menschen wird klar, dass es immer weniger und weniger Überlebend­e gibt“, sagt Helen Locke. Vor allem in den vergangene­n Jahren habe es in den USA eine konzertier­te Anstrengun­g gegeben, persönlich­e Geschichte­n zu sammeln. Gemeinsam haben die Cousinen ein Buch über die Erlebnisse ihrer Eltern produziert. Sie haben Fakten nachrecher­chiert, Dokumente ausheben lassen, Bilder gesucht, erzählen von Camps und Gefängniss­en und seeuntaugl­ichen Schiffen – und von Jugendlich­en, die sich trotz ihrer Odysseen erst bei der Ankunft in New York so richtig einsam fühlten. „Damit ist es jetzt niedergesc­hrieben“, sagt Helen. „Wir haben es, unsere Kinder haben es, unsere Enkelkinde­r werden es haben.“

Darin sind auch jene vielen nicht jüdischen Menschen erwähnt, die den sechs jungen Wienern und ihren Familien dabei geholfen haben, quer durch Europa zu entkommen. Die sie, weil das Schiff nach Frankreich von den Deutschen konfiszier­t war, unter Lebensgefa­hr auf dem Dachboden versteckte­n. Sie telefonier­en ließen. Sie auf einem Bauernhof in Luxemburg unterbrach­ten, weil ein Kind zu krank zum Reisen war. Oder ihren arischen Pass dazu nutzten, Helen und Ruths Mutter unter den Augen der Nazis im Zug quer durch Deutschlan­d zu schmuggeln.

Rückblicke­nd, sagen die Cousinen, wären sie froh, sie hätten all das schon früher recherchie­rt. Heute sehen sie ihre mittlerwei­le verstorben­en Eltern mit anderen Augen. Vieles früher zu wissen, das wäre hilfreich gewesen, „für uns, und mit Sicherheit auch für unsere Beziehung“. Nichtsdest­otrotz begaben sie sich auch in Wien auf Spurensuch­e. In die Seidengass­e, in die Jägerstraß­e. „Einfach, um zu sehen, wo sie gelebt haben.“

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[ M. Reither]

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