Steht auch die Kultur unter dem Diktat des Fortschritts?
Bachler statt Thielemann in Salzburg, die Öffnung als Gebot der Stunde: Aktuelle Fallbeispiele für den Wandel des Kulturbegriffs.
Wilhelm Sinkovicz, einer der nicht mehr sehr vielen journalistischen Anwälte der getreuen interpretatorischen Bewahrung der großen abendländischen Musiktradition, äußert sich an prominenter Stelle, im Leitartikel der „Presse“(vom 23. Sept. 2019), und nicht zum ersten Mal und ausnahmsweise in Übereinstimmung mit gewichtigen Stimmen des deutschen Feuilletons, entsetzt über die Vertreibung Christian Thielemanns aus der Führungsposition der Salzburger Osterfestspiele: Es „verrät zuallererst die erschreckende Wurschtigkeit, mit der man in diesem Land mittlerweile kulturpolitischen Themen begegnet. Wäre Österreich tatsächlich die vielzitierte Kulturnation, hätte kein Politiker widerspruchslos einen solchen Schritt wenige Tage vor einer Nationalratswahl gewagt.“
Es steht jedoch zu fürchten, dass der von Sinkovicz beklagte Wandel vielmehr einer des Kulturbegriffs selbst ist. Nikolaus Bachler, der an die Stelle Thielemanns treten soll, ist kein Dirigent, der die Musik Wagners, Bruckners, Strauss‘ erlebt und belebt, sondern ein Kulturmanager der modernen „Erlebnisgesellschaft“(ein treffender Terminus des Kultursoziologen Gerhard Schulze), der den Osterfestspielen vor allem das Eine verordnen will: Abwechslung, Vielfalt.
Ständig wechseln müssen sowohl verschiedene Orchester in Konzert und Oper als auch diese selbst mit Tanz, Jazz und Pop, denn diese „Öffnung“eines verkrusteten, verstaubten klassischen Kanons sei das Gebot der Stunde. Und folgt nicht sogar eine konservative Qualitätszeitung wie „Die Presse“selbst irgendwie schon ein wenig eben diesem Gebot? Immer öfter und prominenter erscheinen im Feuilleton, selbst auf dessen erster Seite, Ereignisse aus den Sparten Pop und kommerzieller Film.
Öffnung, Abwechslung, Mischung, Einbindung sollen schließlich auch die versteinerten Strukturen von Theater und Bühne sprengen. Das Wiener Burgtheater galt einmal als das führende Sprechtheater der deutschen Sprachgemeinschaft. Obwohl auch damalige Inszenierungen meist großen Wert auf Bewegungsregie, Kulissenzauber und Bühnenmusik legten, blieb der Primat des gesprochenen Wortes unangefochten. Man sagte sogar den großen Burgschauspielern nach, geradezu zu singen, wenn sie ihre Rollen mehr oder minder pathetisch deklamierten. Einen Oskar Werner erkannte man im Radio in einer Sekunde, nicht anders als den Operntenor Giuseppe di Stefano. Aber dieselben Sprechkünstler vermochten auch zu flüstern, dass man sie bis in die letzte Reihe der Galerie gut verstand. Dazu reicht die derzeit übliche Sprechausbildung längst nicht mehr. Dementsprechend beherrschen Lärm und Gebrüll immer öfter die