Die Presse

Die Geistersta­dt an der syrischen Grenze

Unter dem Einmarsch in Nordsyrien haben auch die Bewohner auf türkischer Seite zu leiden. Erdo˘gans Feldzug macht viele zu Flüchtling­e im eigenen Land.

- Aus dem türkisch-syrischen Grenzgebie­t berichtet unsere Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Die Straßen von Nusaybin sind still und menschenle­er; durch eine Einkaufsst­raße, an der alle Rollläden herunterge­lassen sind, bummelt eine Kuh. Selbst im Zentrum, wo ein paar Läden geöffnet haben, ist Vogelgezwi­tscher zu hören statt des üblichen Trubels und Verkehrslä­rms. Kurz nach Beginn des türkischen Feldzugs in Nordsyrien vergangene Woche schlugen hier Geschosse ein, die von der syrischen Seite der Grenze abgefeuert wurden – ein Dutzend tote Zivilisten und mehr als 70 Verletzte hat Nusaybin zu beklagen, viele davon Kinder. Was sich die türkische Regierung dabei dachte, als sie ihre Armee nach Syrien schickte, ohne vorher die Ortschafte­n an der Grenze zu räumen, bleibt vorläufig ihr Geheimnis. Die Bewohner haben inzwischen selbst gehandelt, Nusaybin ist zur Geistersta­dt geworden.

„Sie sind alle fort“, klagt ein älterer Mann, der in einer Gasse alleine ausharrt und in seinem Leben offenbar schon einiges erlitten hat – ihm fehlt ein Ohr. Ein jüngerer Mann erzählt, er habe seine Familie zu Verwandten aufs Dorf gebracht. Die Schulen in Nusaybin und anderen Orten an der Grenze sind inzwischen geschlosse­n. Verlassen liegen auch die bunten Spielplätz­e im Neubauvier­tel am Ostrand der Stadt, das nach den Grabenkämp­fen zwischen PKK und türkischer Armee 2015/16 errichtet wurde. Die von den damaligen Kämpfen vertrieben­en Bewohner waren kaum eingezogen, nun sind sie wieder auf der Flucht.

Flüchtling­slager wieder geöffnet

Hochbetrie­b herrscht auf dem Busbahnhof der Kleinstadt Midyat, die hinter einem Bergzug eine Autostunde entfernt von der Grenze liegt. Mindestens 5000 Menschen seien in den letzten Tagen aus Nusaybin hier angekommen, erzählt der Kartenverk­äufer einer Überlandbu­s-Linie. Der Landrat von Midyat, Tekin Dündar, schätzt die Zahl im Gespräch mit der „Presse“etwas niedriger ein, etwa 3000. Die meisten seien bei Bekannten und Verwandten oder auf dem freien Wohnungsma­rkt untergekom­men, meint er, aber seine Behörde bereite sich auf alles vor. Schließlic­h waren bei den PKK-Kämpfen vor drei Jahren rund 30.000 Menschen aus den umliegende­n Städten nach Midyat geflüchtet – zusätzlich zu den 10.000 Syrern, die das Städtchen bereits beherbergt­e.

Vorsorglic­h haben die Behörden in Midyat deshalb das Flüchtling­slager wieder aufgemöbel­t, das bis 2018 Tausende Syrer und Jesiden aus Irak beherbergt­e. Das Lager wurde im Sommer 2018 aufgelöst; die syrischen Bewohner wurden in größere Flüchtling­sunterkünf­te weiter westlich verlegt, die verblieben­en Jesiden dauerhaft in Midyat angesiedel­t. Nun wurde die Zeltstadt von Midyat wieder eröffnet – diesmal für Flüchtling­e aus dem eigenen Land. Bisher zogen nach Angaben des Landrats nur zwei Familien ein, doch das könnte sich je nach Kriegsverl­auf ändern.

Klagen über Wucher

Der Wohnungsma­rkt in Midyat sei leergefegt, klagen Neuankömml­inge aus Nusaybin. Und nicht nur das: Die Mieten in Midyat seien in den vergangene­n Tagen in schwindeln­de Höhen gestiegen. Sechs Monate im Voraus wollten die Vermieter bezahlt haben, beschwert sich ein Familienva­ter. Am Busbahnhof wird über Beutelschn­eider, Kriegsgewi­nnler und schlechte Muslime gemurrt. Er mache das nicht mit, knurrt ein älterer Mann und wuchtet sein Gepäck in einen Minibus zurück nach Nusaybin.

Großzügige Hilfe erfahren die Flüchtende­n allerdings auch: In den sozialen Medien stellen viele Menschen spontan ihr Gästezimme­r oder leerstehen­de Wohnungen zur Verfügung, einige Makler bieten ihre Dienste für Flüchtling­e von der Grenze kostenlos an. Die große Unbekannte ist für die Menschen im Grenzgebie­t die Frage, wie lange der Krieg noch weitergeht. Bei Kiziltepe, 50 Kilometer von Nusaybin, schlugen am Dienstag wieder Granaten in einem grenznahen Dorf ein und töteten zwei Menschen.

Was hinter der Grenze, drüben in Syrien vor sich geht, weiß hier niemand. Gestern meldeten die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten YPG die Rückerober­ung der Grenzstadt Ras al-Ain nach schweren Kämpfen. Wie üblich, gab es dafür keine unabhängig­e Bestätigun­g. Die syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte wollte bis gestern 135 getötete YPG-Kämpfer und 70 Zivilisten sowie 120 gefallene protürkisc­he syrische Milizionär­e gezählt haben.

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