Die Geisterstadt an der syrischen Grenze
Unter dem Einmarsch in Nordsyrien haben auch die Bewohner auf türkischer Seite zu leiden. Erdo˘gans Feldzug macht viele zu Flüchtlinge im eigenen Land.
Die Straßen von Nusaybin sind still und menschenleer; durch eine Einkaufsstraße, an der alle Rollläden heruntergelassen sind, bummelt eine Kuh. Selbst im Zentrum, wo ein paar Läden geöffnet haben, ist Vogelgezwitscher zu hören statt des üblichen Trubels und Verkehrslärms. Kurz nach Beginn des türkischen Feldzugs in Nordsyrien vergangene Woche schlugen hier Geschosse ein, die von der syrischen Seite der Grenze abgefeuert wurden – ein Dutzend tote Zivilisten und mehr als 70 Verletzte hat Nusaybin zu beklagen, viele davon Kinder. Was sich die türkische Regierung dabei dachte, als sie ihre Armee nach Syrien schickte, ohne vorher die Ortschaften an der Grenze zu räumen, bleibt vorläufig ihr Geheimnis. Die Bewohner haben inzwischen selbst gehandelt, Nusaybin ist zur Geisterstadt geworden.
„Sie sind alle fort“, klagt ein älterer Mann, der in einer Gasse alleine ausharrt und in seinem Leben offenbar schon einiges erlitten hat – ihm fehlt ein Ohr. Ein jüngerer Mann erzählt, er habe seine Familie zu Verwandten aufs Dorf gebracht. Die Schulen in Nusaybin und anderen Orten an der Grenze sind inzwischen geschlossen. Verlassen liegen auch die bunten Spielplätze im Neubauviertel am Ostrand der Stadt, das nach den Grabenkämpfen zwischen PKK und türkischer Armee 2015/16 errichtet wurde. Die von den damaligen Kämpfen vertriebenen Bewohner waren kaum eingezogen, nun sind sie wieder auf der Flucht.
Flüchtlingslager wieder geöffnet
Hochbetrieb herrscht auf dem Busbahnhof der Kleinstadt Midyat, die hinter einem Bergzug eine Autostunde entfernt von der Grenze liegt. Mindestens 5000 Menschen seien in den letzten Tagen aus Nusaybin hier angekommen, erzählt der Kartenverkäufer einer Überlandbus-Linie. Der Landrat von Midyat, Tekin Dündar, schätzt die Zahl im Gespräch mit der „Presse“etwas niedriger ein, etwa 3000. Die meisten seien bei Bekannten und Verwandten oder auf dem freien Wohnungsmarkt untergekommen, meint er, aber seine Behörde bereite sich auf alles vor. Schließlich waren bei den PKK-Kämpfen vor drei Jahren rund 30.000 Menschen aus den umliegenden Städten nach Midyat geflüchtet – zusätzlich zu den 10.000 Syrern, die das Städtchen bereits beherbergte.
Vorsorglich haben die Behörden in Midyat deshalb das Flüchtlingslager wieder aufgemöbelt, das bis 2018 Tausende Syrer und Jesiden aus Irak beherbergte. Das Lager wurde im Sommer 2018 aufgelöst; die syrischen Bewohner wurden in größere Flüchtlingsunterkünfte weiter westlich verlegt, die verbliebenen Jesiden dauerhaft in Midyat angesiedelt. Nun wurde die Zeltstadt von Midyat wieder eröffnet – diesmal für Flüchtlinge aus dem eigenen Land. Bisher zogen nach Angaben des Landrats nur zwei Familien ein, doch das könnte sich je nach Kriegsverlauf ändern.
Klagen über Wucher
Der Wohnungsmarkt in Midyat sei leergefegt, klagen Neuankömmlinge aus Nusaybin. Und nicht nur das: Die Mieten in Midyat seien in den vergangenen Tagen in schwindelnde Höhen gestiegen. Sechs Monate im Voraus wollten die Vermieter bezahlt haben, beschwert sich ein Familienvater. Am Busbahnhof wird über Beutelschneider, Kriegsgewinnler und schlechte Muslime gemurrt. Er mache das nicht mit, knurrt ein älterer Mann und wuchtet sein Gepäck in einen Minibus zurück nach Nusaybin.
Großzügige Hilfe erfahren die Flüchtenden allerdings auch: In den sozialen Medien stellen viele Menschen spontan ihr Gästezimmer oder leerstehende Wohnungen zur Verfügung, einige Makler bieten ihre Dienste für Flüchtlinge von der Grenze kostenlos an. Die große Unbekannte ist für die Menschen im Grenzgebiet die Frage, wie lange der Krieg noch weitergeht. Bei Kiziltepe, 50 Kilometer von Nusaybin, schlugen am Dienstag wieder Granaten in einem grenznahen Dorf ein und töteten zwei Menschen.
Was hinter der Grenze, drüben in Syrien vor sich geht, weiß hier niemand. Gestern meldeten die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG die Rückeroberung der Grenzstadt Ras al-Ain nach schweren Kämpfen. Wie üblich, gab es dafür keine unabhängige Bestätigung. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte wollte bis gestern 135 getötete YPG-Kämpfer und 70 Zivilisten sowie 120 gefallene protürkische syrische Milizionäre gezählt haben.