Leitartikel von Duygu Özkan
Die Armee und die Türkei überwinden ihr Putschtrauma. Doch die SyrienOperation fordert einen Tribut: Es wird keine Versöhnung mit Kurden geben.
Das Stadion in Saint-Denis war am Montagabend hochpolitisch. Aus Protest gegen die türkische Militäroffensive in Nordsyrien hat der französische Außenminister, Jean-Yves Le Drian, die Teilnahme am Match Frankreich–Türkei abgesagt. Beim Spiel selbst sorgten dann die türkischen Nationalspieler für Aufsehen: In einer Reihe stehend salutierten sie vor ihrem großen Publikum, der Militärgruß ging nach einem Tor hinaus an die Soldaten an der syrischen Front. Kritik kam postwendend und hagelte von allen Seiten, doch die Aufmachertitel von Ankaras regierungshörigen Blättern ließen sich am Mittwoch nicht beirren. Unverständnis zeigten die Kommentatoren eher dafür, dass die Uefa Untersuchungen „gegen unsere Spieler wegen ihrer Torfreude eingeleitet hat“.
Das Militär hat seit Beginn der jüngsten Operation Hochkonjunktur in der türkischen Politik, der Gesellschaft, dem Sport und selbst in der Popkultur. Heroische Bilder von Soldaten und ihrem Vorstoß nach Nordsyrien werden millionenfach auf sozialen Medien geteilt, die Unterstützung, so scheint es, kennt keine Grenzen. Getragen haben die Offensive auch alle Parteien bis auf die von der Regierung zermarterte prokurdische HDP. Auf diese Operation hat Recep Tayyip Erdogan˘ die Bevölkerung auch monatelang vorbereitet; sie kommt für die Türken weder überraschend, noch bedarf sie intensiver Rechtfertigung. Also haben wir es mit einer kriegslüsternen Bevölkerung zu tun? Nein. Die Stimmung lässt sich vielmehr so zusammenfassen: Die Operation ist ein notwendiges Übel und endet hoffentlich so schnell, wie sie begonnen hat. Mit der von der Regierung ausgegebenen Parole, dass nicht die Kurden, sondern Terrorgruppen wie die PKK bekämpft werden, können auch viele leben.
Hinzu kommt, dass das Militär eine Art unantastbare Gewalt darstellt. Das ist sicherlich der Geschichte geschuldet: Feldherr Mustafa Kemal Atatürk schlug die feindlichen Truppen zurück und führte das Land in die Unabhängigkeit. Das Gründungsmomentum war per se militärisch, und es folgten Phasen, da war niemand so mächtig wie der oberste General. „In der Türkei hat Gott zuerst das Militär erschaffen“, sinnierte einst der langjährige Politiker Süleyman Demirel, „dann erkannte er seinen Fehler und erschuf anschließend das türkische Volk.“Mehrere Putsche in den vergangenen Jahrzehnten bezeugen die Macht der Armee, erst ab den 2000er-Jahren war so etwas wie profunde Kritik an den Generälen möglich. Als aber der äußerst blutige Putschversuch gegen Erdogan˘ im Juli 2016 eine in sich zerrissene türkische Armee offenlegte, war das ein Schock für das militarisierte Land. Und diesen Schock scheint Erdogan˘ mit der aktuellen Operation zu überwinden.
Freilich kommt es weiterhin zu öffentlicher Kritik an der Militäroffensive, doch da greift die Exekutive bzw. die Justiz auf AKP-erprobte Methoden zurück: Festnahme, Gerichtsverfahren. D ie Bevölkerung in der Türkei blickt zum einen auf eine lange und inhumane Unterdrückung der Kurden, zum anderen auf einen brutalen Unabhängigkeitskampf der PKK zurück. Dieser zermürbende Konflikt betrifft jeden einzelnen Bürger, so war auch die Idee einer kurdischen (und von der PKK indirekt mitgetragenen) Eigenverwaltung in Syrien direkt an der türkischen Grenze immer eine erschreckende. Hätte dieser unabhängige Streifen längerfristig Einfluss auf die Kurden in der Türkei? Selbstverständlich. Wie tiefgreifend dieser ausfallen würde, hätte Erdogan˘ mit intelligenter Politik steuern können. Doch hier liegt die Tragik dieser hochriskanten Militäroperation. Eine Offensive zu starten und die eigene kurdische Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen – das ist unmöglich.
Erdogan˘ kann nicht die Parole ausgeben: „Wir bekämpfen nicht die Kurden“– und am Dienstag vier gewählte Kurdenvertreter verhaften lassen. Die Regierung weiß, dass sich die Lage im Südosten weiterhin zuspitzen wird, vielleicht bis zur endgültigen Eskalation. Ankara hat an einem Frieden mit den Kurden kein Interesse mehr, und ohne diesen Friedensprozess wird die Türkei samt Militär nicht zur Ruhe kommen.