Russlands Richter sperren jeden ein
Justiz. Wer in Russland als Unternehmer mit der Justiz zu tun kriegt, geht fast zu 100 Prozent hinter Gitter. 2019 ist die Lage besonders brisant, viele namhafte Tycoons sind bereits geflüchtet.
2019 wird in die Geschichte der russischen Justiz eingehen. Das Ausmaß nämlich, in dem sie große Fälle von Wirtschaftskriminalität aufgreift, sucht seinesgleichen und erinnert von der Resonanz her nur an den Fall des einstigen Putingegners und Oligarchen Michail Chodorkowski, der vor eineinhalb Jahrzehnten für zehn Jahre ins Arbeitslager ging.
Gewiss, die heurigen Fälle haben alle ihre Nuancen und gründen einmal auf politischer Opposition, einmal auf allgemeiner Unternehmerfeindlichkeit der Sicherheitsbehörden oder einfach nur auf Attacken von Ex-Geschäftspartnern oder aktuellen Konkurrenten. Das Gesamtbild ist für den Investitionsstandort jedenfalls verheerend, hielt der vom Kreml eingesetzte Ombudsmann für Unternehmer, Boris Titow, wiederholt fest.
Die aufstrebende russische Internetqualitätszeitung „The Bell“hat kürzlich ein Ranking der zwölf größten laufenden Fälle von tatsächlicher oder konstruierter Wirtschaftskriminalität erstellt und errechnet, dass es insgesamt um eine Schadenssumme von sage und schreibe 700 Milliarden Rubel (aktuell 9,9 Milliarden Euro) geht.
Sie hat aber auch die Statistik hinzugestellt, wie die russische Justiz in solchen Angelegenheiten gewöhnlich urteilt: In fast allen diesbezüglichen Verbrechenskategorien wird der Angeklagte zu über 99 Prozent verurteilt. Nur in der Kategorie der „Gründung einer verbrecherischen Organisation“liegt der Prozentsatz bei „nur“98,85 Prozent und im Bereich „Geldwäsche“bei 91,89 Prozent. Dafür liegt er im Bereich „Betrug in besonders großem Ausmaß“oder „Fälschung von Finanzdokumenten“bei satten 100 Prozent.
Wer als Unternehmer in die Mühlen der russischen Justiz gerät, geht also ziemlich sicher ins Gefängnis. Nicht zufällig sagen Tycoons wie kürzlich der Multimilliardär Pjotr Aven, er würde eigentlich nie auswandern, es sei denn, dass strafrechtlich gegen ihn ermittelt würde – Aven ist Chef der landesweit größten Privatbank AlfaBank. Und nicht zufällig hat der Staat angesichts der entfesselten Justiz einen eigenen Ombudsmann für Unternehmer ernannt.
Dessen Tätigkeit wird mit jedem Monat internationaler. Denn weil die Attacken gegen die Unternehmer zuletzt rapide zunahmen, fliehen immer mehr ins Ausland.
Zuletzt sogar die Ananjew-Brüder – ein neuer Höhepunkt. Sehr Kreml-loyal hatten sich die beiden Ex-Multimilliardäre immer gegeben. Ihre Bärte gaben ihnen den Anstrich von russisch-orthodoxen Popen. Auch damit wollten sie suggerieren, dass sie es gut mit ihrer Heimat meinen.
Ein Moskauer Gericht sah das freilich anders. Mitte September hat es entschieden, über beide in Abwesenheit die Festnahme auszusprechen. Sie haben sich rechtzeitig ins Ausland abgesetzt. Der Vorwurf: Die beiden hätten in ihrer systemrelevanten Bank „Promsvjazbank“, die 2017 in Schieflage geraten und zu ihrem Schock verstaatlicht worden war, 66 Mrd. Rubel (930 Mio. Euro) und weitere 575 Mio. Dollar veruntreut. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die Zeugen der Anklage hätten den Namen der Brüder aber gar nie genannt, so die Verteidigung.
Wenige Tage zuvor wurde Sergej Petrow, der landesweit größte Autoimporteur, zur Fahndung ausgeschrieben, da er angeblich preislich überhöht Aktien einer Firmentochter verkauft hatte – er emigrierte nach Österreich. Nun haben russische Medien aufgedeckt, dass die im Fall Petrow vom Geheimdienst FSB dem Gericht vorgelegte Expertise zum Verkaufswert von einer Firma im Nordkaukasus stammt, die schon lange ihren Status als Auditor verloren hatte.
Der FSB war auch im Spiel, als die Attacken gegen den 62-jährigen David Jakobaschwili (Vermögen: 750 Mio. Dollar) losgingen, der einst den landesweit größten Getränkekonzern aufgebaut und später an PepsiCo verkauft hatte. Ein ehemaliger Geschäftspartner wollte Jakobaschwili loswerden und wandte sich an den FSB um Hilfe.
Man muss die russischen Unternehmer nicht zu Engel hochstilisieren. Aber im derzeitigen Match mit dem immer aktiveren FSB, der die Justiz an seiner Seite hat, sind sie die Zweiten. Apropos aktiver FSB: Er ist es auch wirtschaftlich. Kürzlich hat der renommierte – und wegen eines inkriminierten Drogenhandels – kurzzeitig auch festgenommene Investigativjournalist Iwan Golunow in einem Bericht über die Mafia im Bestattungswesen enthüllt, dass FSB-Leute dort riesige Geldflüsse kontrollieren. Und es wurde bekannt, dass der FSB-Generalmajor Alexandr Pastuschkow auf seiner Datscha fünf Mio. Dollar vergraben hatte.
Er kehre vorerst nicht nach Russland zurück, ließ Jakobaschwili wissen: Die Dinge, die dort vor sich gingen, seien „nicht mehr adäquat“. Eine beliebte russische Umschreibung für „verrückt“.