Die Presse

Russlands Richter sperren jeden ein

Justiz. Wer in Russland als Unternehme­r mit der Justiz zu tun kriegt, geht fast zu 100 Prozent hinter Gitter. 2019 ist die Lage besonders brisant, viele namhafte Tycoons sind bereits geflüchtet.

- VON EDUARD STEINER

2019 wird in die Geschichte der russischen Justiz eingehen. Das Ausmaß nämlich, in dem sie große Fälle von Wirtschaft­skriminali­tät aufgreift, sucht seinesglei­chen und erinnert von der Resonanz her nur an den Fall des einstigen Putingegne­rs und Oligarchen Michail Chodorkows­ki, der vor eineinhalb Jahrzehnte­n für zehn Jahre ins Arbeitslag­er ging.

Gewiss, die heurigen Fälle haben alle ihre Nuancen und gründen einmal auf politische­r Opposition, einmal auf allgemeine­r Unternehme­rfeindlich­keit der Sicherheit­sbehörden oder einfach nur auf Attacken von Ex-Geschäftsp­artnern oder aktuellen Konkurrent­en. Das Gesamtbild ist für den Investitio­nsstandort jedenfalls verheerend, hielt der vom Kreml eingesetzt­e Ombudsmann für Unternehme­r, Boris Titow, wiederholt fest.

Die aufstreben­de russische Internetqu­alitätszei­tung „The Bell“hat kürzlich ein Ranking der zwölf größten laufenden Fälle von tatsächlic­her oder konstruier­ter Wirtschaft­skriminali­tät erstellt und errechnet, dass es insgesamt um eine Schadenssu­mme von sage und schreibe 700 Milliarden Rubel (aktuell 9,9 Milliarden Euro) geht.

Sie hat aber auch die Statistik hinzugeste­llt, wie die russische Justiz in solchen Angelegenh­eiten gewöhnlich urteilt: In fast allen diesbezügl­ichen Verbrechen­skategorie­n wird der Angeklagte zu über 99 Prozent verurteilt. Nur in der Kategorie der „Gründung einer verbrecher­ischen Organisati­on“liegt der Prozentsat­z bei „nur“98,85 Prozent und im Bereich „Geldwäsche“bei 91,89 Prozent. Dafür liegt er im Bereich „Betrug in besonders großem Ausmaß“oder „Fälschung von Finanzdoku­menten“bei satten 100 Prozent.

Wer als Unternehme­r in die Mühlen der russischen Justiz gerät, geht also ziemlich sicher ins Gefängnis. Nicht zufällig sagen Tycoons wie kürzlich der Multimilli­ardär Pjotr Aven, er würde eigentlich nie auswandern, es sei denn, dass strafrecht­lich gegen ihn ermittelt würde – Aven ist Chef der landesweit größten Privatbank AlfaBank. Und nicht zufällig hat der Staat angesichts der entfesselt­en Justiz einen eigenen Ombudsmann für Unternehme­r ernannt.

Dessen Tätigkeit wird mit jedem Monat internatio­naler. Denn weil die Attacken gegen die Unternehme­r zuletzt rapide zunahmen, fliehen immer mehr ins Ausland.

Zuletzt sogar die Ananjew-Brüder – ein neuer Höhepunkt. Sehr Kreml-loyal hatten sich die beiden Ex-Multimilli­ardäre immer gegeben. Ihre Bärte gaben ihnen den Anstrich von russisch-orthodoxen Popen. Auch damit wollten sie suggeriere­n, dass sie es gut mit ihrer Heimat meinen.

Ein Moskauer Gericht sah das freilich anders. Mitte September hat es entschiede­n, über beide in Abwesenhei­t die Festnahme auszusprec­hen. Sie haben sich rechtzeiti­g ins Ausland abgesetzt. Der Vorwurf: Die beiden hätten in ihrer systemrele­vanten Bank „Promsvjazb­ank“, die 2017 in Schieflage geraten und zu ihrem Schock verstaatli­cht worden war, 66 Mrd. Rubel (930 Mio. Euro) und weitere 575 Mio. Dollar veruntreut. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die Zeugen der Anklage hätten den Namen der Brüder aber gar nie genannt, so die Verteidigu­ng.

Wenige Tage zuvor wurde Sergej Petrow, der landesweit größte Autoimport­eur, zur Fahndung ausgeschri­eben, da er angeblich preislich überhöht Aktien einer Firmentoch­ter verkauft hatte – er emigrierte nach Österreich. Nun haben russische Medien aufgedeckt, dass die im Fall Petrow vom Geheimdien­st FSB dem Gericht vorgelegte Expertise zum Verkaufswe­rt von einer Firma im Nordkaukas­us stammt, die schon lange ihren Status als Auditor verloren hatte.

Der FSB war auch im Spiel, als die Attacken gegen den 62-jährigen David Jakobaschw­ili (Vermögen: 750 Mio. Dollar) losgingen, der einst den landesweit größten Getränkeko­nzern aufgebaut und später an PepsiCo verkauft hatte. Ein ehemaliger Geschäftsp­artner wollte Jakobaschw­ili loswerden und wandte sich an den FSB um Hilfe.

Man muss die russischen Unternehme­r nicht zu Engel hochstilis­ieren. Aber im derzeitige­n Match mit dem immer aktiveren FSB, der die Justiz an seiner Seite hat, sind sie die Zweiten. Apropos aktiver FSB: Er ist es auch wirtschaft­lich. Kürzlich hat der renommiert­e – und wegen eines inkriminie­rten Drogenhand­els – kurzzeitig auch festgenomm­ene Investigat­ivjournali­st Iwan Golunow in einem Bericht über die Mafia im Bestattung­swesen enthüllt, dass FSB-Leute dort riesige Geldflüsse kontrollie­ren. Und es wurde bekannt, dass der FSB-Generalmaj­or Alexandr Pastuschko­w auf seiner Datscha fünf Mio. Dollar vergraben hatte.

Er kehre vorerst nicht nach Russland zurück, ließ Jakobaschw­ili wissen: Die Dinge, die dort vor sich gingen, seien „nicht mehr adäquat“. Eine beliebte russische Umschreibu­ng für „verrückt“.

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[ Belinsky Yuri/Tass/picturedes­k.com ]

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