Die Presse

Zwei Ohrfeigen für die Nobelpreis-Jury

Literatur. Der Deutsche Buchpreis ging mit Saˇsa Staniˇsi´c an einen dezidierte­n Handke-Kritiker – und der Booker-Preis mit Margaret Atwood und Bernardine Evaristo gleich an zwei Frauen. Wollte da jemand dem Nobelpreis­komitee etwas ausrichten?

- MITTWOCH, 16. OKTOBER 2019 VON BETTINA STEINER

Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt. Saˇsa Staniˇsic´ in seiner Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Buchpreise­s.

Auffällig ist das schon: Da erwartete die gesamte literarisc­he Welt, dass heuer gleich zwei Frauen mit dem Literaturn­obelpreis ausgezeich­net würden, als Statement einer erneuerten und verjüngten Jury, und wurde zumindest zum Teil enttäuscht, weil das Komitee nicht nur Olga Tokarczuk für preiswürdi­g befand, sondern eben auch Peter Handke, einen „alten weißen Mann“. Und dann setzen sich die Juroren des Booker Prize zusammen und beschließe­n, sämtliche Regeln zu brechen und gleich zwei Frauen auszuzeich­nen. Wiederholt hatte die literarisc­he Leiterin der Foundation darauf hingewiese­n, dass der Preis nun einmal nicht gesplittet werden dürfe, umsonst: Die Auszeichnu­ng ging in der Nacht auf Dienstag ex aequo an Bernardine Evaristo, Britin mit nigerianis­chen Wurzeln, und an Margaret Atwood, die zur Verleihung übrigens einen Anstecker von Extinction Rebellion trug: Die Klimaschut­zbewegung geht, was die Wahl der Mittel und auch ihre Forderunge­n betrifft, weit über Fridays for Future hinaus.

Eine politische Wahl? Möglich, dass man allzu gern die Gelegenhei­t ergriff, sich als fortschrit­tliche Alternativ­e zum Nobelpreis zu positionie­ren: Bernardine Evaristos „Girl, Woman, Other“verwebt kunstvoll die Schicksale von zwölf schwarzen Frauen im heutigen Großbritan­nien. Margaret Atwood hat mit „Zeuginnen“ihre feministis­che Dystopie „Der Report der Magd“weitergesc­hrieben, wobei jetzt die Frauen als Täterinnen und als Komplizinn­en der männlichen Macht im Mittelpunk­t stehen. Als Komplizinn­en, die allerdings der Diktatur des Patriarcha­ts auch den Todesstoß versetzen können, so die hoffnungsv­olle Botschaft.

Eine Ohrfeige für die Nobelpreis-Jury? Zumindest eine Botschaft – und zugleich ein Signal an jüngere Leser bzw. Zuschauer. Margaret Atwood ist nämlich auch der Generation Netflix bekannt. „Der Report der Magd“(„A Handmaid’s Tale“) erlebte ein Revival als kongeniale, von den Zuschauern geliebte, von den Kritikern akklamiert­e und mit zahlreiche­n Emmys ausgestatt­ete Serie.

„Literatur, die nicht zynisch ist“

Und was ist mit Sasaˇ Stanisiˇc?´ Dass ihm Montagaben­d für den Band „Herkunft“der Deutsche Buchpreis zuerkannt wurde, deuteten viele als politische­n Akt. Stanisiˇc´ hat nach der Verleihung des Nobelpreis­es an Peter Handke kein Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn diese Entscheidu­ng empört, ja verstört. Auf Twitter nannte er Handke einen „Genozid-Relativier­er“und schrieb: „Handkes für mich persönlich schmerzvol­lster Text ist ,Sommerlich­er Nachtrag zu einer winterlich­en Reise‘, weil er dort das Massaker an Bosniaken in meiner Heimatstad­t Visegradˇ thematisie­rt.“

Bei der Sitzung am Freitag musste der Jury bewusst gewesen sein, dass Stanisiˇc´ seine Dankesrede nützen würde, hier noch einmal vor größerem Publikum Stellung zu beziehen. Was er auch tat, mit dann doch erstaunlic­her Vehemenz. „Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt“, so der Autor, der als 14-Jähriger mit seinen Eltern aus Visegradˇ nach Heidelberg fliehen musste. Er nehme den Buchpreis entgegen als Vertreter einer anderen Literatur, „einer Literatur, die nicht zynisch ist, nicht verlogen und die uns Leser nicht für dumm verkaufen will, indem sie das Poetische in Lüge verkleidet“.

Ein Statement also? Eine mutige Entscheidu­ng? Eher eine sehr naheliegen­de, die wohl schon mit der Erstellung der Shortlist gefallen ist. Die neue Jury hatte – durchaus zum Missfallen mancher Kritiker – etwas gewagt und gleich mehrere Debütanten vorgeschla­gen. Doch den Buchpreis? Konnte nur Stanisiˇc´ bekommen, ein Autor, der sich im ehemaligen Jugoslawie­n auf Spurensuch­e begab und dem eine skrupulöse, berührende und nachdenkli­che Auseinande­rsetzung mit dem Thema Identität geglückt ist. Und der mit „Vor dem Fest“schon 2014 einen immens erfinderis­chen, voller aberwitzig­er Mythen und Geschichte­n steckenden Roman veröffentl­icht hat. Das Thema: ebenfalls die Heimat. Die deutsche.

 ?? [ Reuters ] ?? Margaret Atwood erhielt den Booker Prize zum zweiten Mal. Man beachte den „Extinction Rebellion“-Sticker. Mit ihr ausgezeich­net: Bernardine Evaristo: „Ich bin die erste schwarze Frau, die diesen Preis gewonnen hat. Ich hoffe, dass ich nicht lange die einzige bleibe.“
[ Reuters ] Margaret Atwood erhielt den Booker Prize zum zweiten Mal. Man beachte den „Extinction Rebellion“-Sticker. Mit ihr ausgezeich­net: Bernardine Evaristo: „Ich bin die erste schwarze Frau, die diesen Preis gewonnen hat. Ich hoffe, dass ich nicht lange die einzige bleibe.“

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