Zwei Ohrfeigen für die Nobelpreis-Jury
Literatur. Der Deutsche Buchpreis ging mit Saˇsa Staniˇsi´c an einen dezidierten Handke-Kritiker – und der Booker-Preis mit Margaret Atwood und Bernardine Evaristo gleich an zwei Frauen. Wollte da jemand dem Nobelpreiskomitee etwas ausrichten?
Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt. Saˇsa Staniˇsic´ in seiner Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises.
Auffällig ist das schon: Da erwartete die gesamte literarische Welt, dass heuer gleich zwei Frauen mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet würden, als Statement einer erneuerten und verjüngten Jury, und wurde zumindest zum Teil enttäuscht, weil das Komitee nicht nur Olga Tokarczuk für preiswürdig befand, sondern eben auch Peter Handke, einen „alten weißen Mann“. Und dann setzen sich die Juroren des Booker Prize zusammen und beschließen, sämtliche Regeln zu brechen und gleich zwei Frauen auszuzeichnen. Wiederholt hatte die literarische Leiterin der Foundation darauf hingewiesen, dass der Preis nun einmal nicht gesplittet werden dürfe, umsonst: Die Auszeichnung ging in der Nacht auf Dienstag ex aequo an Bernardine Evaristo, Britin mit nigerianischen Wurzeln, und an Margaret Atwood, die zur Verleihung übrigens einen Anstecker von Extinction Rebellion trug: Die Klimaschutzbewegung geht, was die Wahl der Mittel und auch ihre Forderungen betrifft, weit über Fridays for Future hinaus.
Eine politische Wahl? Möglich, dass man allzu gern die Gelegenheit ergriff, sich als fortschrittliche Alternative zum Nobelpreis zu positionieren: Bernardine Evaristos „Girl, Woman, Other“verwebt kunstvoll die Schicksale von zwölf schwarzen Frauen im heutigen Großbritannien. Margaret Atwood hat mit „Zeuginnen“ihre feministische Dystopie „Der Report der Magd“weitergeschrieben, wobei jetzt die Frauen als Täterinnen und als Komplizinnen der männlichen Macht im Mittelpunkt stehen. Als Komplizinnen, die allerdings der Diktatur des Patriarchats auch den Todesstoß versetzen können, so die hoffnungsvolle Botschaft.
Eine Ohrfeige für die Nobelpreis-Jury? Zumindest eine Botschaft – und zugleich ein Signal an jüngere Leser bzw. Zuschauer. Margaret Atwood ist nämlich auch der Generation Netflix bekannt. „Der Report der Magd“(„A Handmaid’s Tale“) erlebte ein Revival als kongeniale, von den Zuschauern geliebte, von den Kritikern akklamierte und mit zahlreichen Emmys ausgestattete Serie.
„Literatur, die nicht zynisch ist“
Und was ist mit Sasaˇ Stanisiˇc?´ Dass ihm Montagabend für den Band „Herkunft“der Deutsche Buchpreis zuerkannt wurde, deuteten viele als politischen Akt. Stanisiˇc´ hat nach der Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke kein Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn diese Entscheidung empört, ja verstört. Auf Twitter nannte er Handke einen „Genozid-Relativierer“und schrieb: „Handkes für mich persönlich schmerzvollster Text ist ,Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise‘, weil er dort das Massaker an Bosniaken in meiner Heimatstadt Visegradˇ thematisiert.“
Bei der Sitzung am Freitag musste der Jury bewusst gewesen sein, dass Stanisiˇc´ seine Dankesrede nützen würde, hier noch einmal vor größerem Publikum Stellung zu beziehen. Was er auch tat, mit dann doch erstaunlicher Vehemenz. „Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt“, so der Autor, der als 14-Jähriger mit seinen Eltern aus Visegradˇ nach Heidelberg fliehen musste. Er nehme den Buchpreis entgegen als Vertreter einer anderen Literatur, „einer Literatur, die nicht zynisch ist, nicht verlogen und die uns Leser nicht für dumm verkaufen will, indem sie das Poetische in Lüge verkleidet“.
Ein Statement also? Eine mutige Entscheidung? Eher eine sehr naheliegende, die wohl schon mit der Erstellung der Shortlist gefallen ist. Die neue Jury hatte – durchaus zum Missfallen mancher Kritiker – etwas gewagt und gleich mehrere Debütanten vorgeschlagen. Doch den Buchpreis? Konnte nur Stanisiˇc´ bekommen, ein Autor, der sich im ehemaligen Jugoslawien auf Spurensuche begab und dem eine skrupulöse, berührende und nachdenkliche Auseinandersetzung mit dem Thema Identität geglückt ist. Und der mit „Vor dem Fest“schon 2014 einen immens erfinderischen, voller aberwitziger Mythen und Geschichten steckenden Roman veröffentlicht hat. Das Thema: ebenfalls die Heimat. Die deutsche.