Was man aus Peter Handkes Irrtümern lernen kann
Der poetische Blick kann zur Schönheit, aber muss nicht zur Wahrheit führen; und was plausibel scheint, muss nicht wahr sein. „Was weiß ein Fremder?“– Diese Frage nannte Handke als seine „liebste Redensart (österreichisch)“.
Kommst du jetzt mit dem Poetischen?“, fragte (sich) Peter Handke in seinem mit „Gerechtigkeit für Serbien“untertitelten Text – und gab gleich selbst die Antwort: „Ja, wenn dieses als das gerade Gegenteil verstanden wird vom Nebulösen. Oder sag statt ,das Poetische‘ besser das Verbindende, das Umfassende – den Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit.“
Der poetische Blick als Heil-, als Bindemittel? Als intuitiver Weg zur Wahrheit, vielleicht gar einer höheren Wahrheit, die sich dem gemeinen Beobachter nicht erschließt? Dieser Anspruch überfordert die Poesie. Dass ihn Handke gestellt hat, stand zu Beginn seiner balkanischen Irrtümer, die ihn, befeuert von Zorn und – an sich verständlicher – Medienkritik, zu trotzigen Aktionen wie der Rede beim Miloseviˇc-´Begräbnis geführt haben.
Der Dichter mag Dinge sehen, die andere übersehen. Doch er übersieht auch Dinge, die andere sehen, gerade weil er auf Details fokussiert, die anderen unscheinbar bleiben. Er kann durch ein Land reisen, in dem Unterdrückung herrscht, in dem Verbrechen geschehen, und das nicht wahrnehmen, weil sein Blick auf, um ein wunderbares Handke-Bild zu verwenden, andersgelben Nudelnestern ruht.
Dass das Schöne zum Wahren führe: Diesem Irrtum erliegen – auf ganz andere, weniger menschenverachtende Weise – auch theoretische Physiker, die glauben, dass ihre Formeln die Welt umso besser beschreiben, je schöner sie sind. Doch so einfach ist es nicht. Gerade der ästhetische, der intuitive Zugang kann in die Irre führen; und er kann etwaige ideologische Verblendung sogar verstärken. Darum eignen sich Künstler weder als sichere Gewährsmänner für das Wahre noch für das Gute.
Die zweite Falle, in die Handke bei seinem Jugoslawien-Abenteuer getappt ist, ist jene der Plausibilität. Was plausibel ist, muss nicht wahr sein. Das lehren uns gute Krimis: Auch wenn der Gärtner kein Alibi, aber ein Motiv hat und noch dazu verdächtig dreinschaut, er muss nicht der Mörder sein. Im Fall der Jugoslawien-Kriege mag die Annahme nahegelegen sein, dass – gemäß dem wienerischen Spruch: Zum Streiten gehören immer zwei – die Kriegsgräuel gleichmäßig auf die Volksgruppen verteilt seien; doch es war offensichtlich nicht so.
Handke hat das 1995 begangene Massaker von Srebrenica in seinem Text aus dem Jahr 1996 zwar explizit nicht infrage gestellt, aber er hat denen, die darüber berichtet haben, „nackten, geilen, marktbestimmten Fakten- und Scheinfakten-Verkauf“attestiert; und das ist ungerecht. Er könnte, er sollte das noch immer zurücknehmen, es würde ihm dabei kein Blatt aus dem Lorbeerkranz fallen. Er könnte sich auf eine wienerische Redensart berufen, die er in seinem Text lobend erwähnt: Was weiß ein Fremder? An anderer Stelle variiert er sie: „Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt?“
Wir sehen immer Bilder: Diese Einsicht ziemt auch dem Dichter. Vielleicht sogar die radikale Einsicht, zu der Handke in einem frühen Statement („Die Literatur ist romantisch“, 1966) gekommen ist: „Eine engagierte Literatur gibt es nicht. Der Begriff ist ein Widerspruch in sich.“