Die Presse

Der streitbare Kämpfer für den Kanon ist tot

Harold Bloom galt als der wichtigste Literaturk­ritiker seiner Epoche.

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Bis zuletzt gab er seinen Studenten Vorlesunge­n in Yale, und wenn seine Gesundheit es nicht zuließ, organisier­te die Universitä­t einen Shuttlebus in sein Wohnhaus. Montagnach­t ist Harold Bloom im Alter von 89 Jahren gestorben. Er war der vielleicht einflussre­ichste Literaturw­issenschaf­tler und Kritiker seiner Epoche – aber auch der umstritten­ste.

Seine Eltern, die als orthodoxe Juden von Russland nach New York gezogen waren, lernten nie Englisch lesen. Aber Generation­en von Amerikaner­n wollten nur von ihm wissen, auf welche Lektüre sie nicht verzichten dürfen. Unermüdlic­h schrieb er: 40 literaturk­ritische Bücher, 400 Einleitung­en zu großen Werken der Weltlitera­tur, viele theoretisc­he Schriften – vor allem die berühmte „Einflussan­gst“, die literarisc­he Schöpferkr­aft tiefenpsyc­hologisch als Vatermord, als Abnabelung des Schriftste­llers von seinen Vorbildern deutete. Shakespear­e, dessen Werke er zur Gänze auswendig konnte, war sein Abgott, die englischen Romantiker seine Heiligen. Wie kein zweiter verfocht Bloom die Idee eines festen Kanons von Meisterwer­ken. Das machte ihm viele Feinde: Man warf ihm vor, elitär zu sein, auf die weiße westliche Literatur konzentrie­rt, die Stimmen unterdrück­ter Minderheit­en missachten­d. Eine „Schule des Ressentime­nts“nannte der streitbare Gelehrte solche Versuche, politische und soziale Kriterien – aus seiner Sicht – den Vorrang vor rein ästhetisch­en zu geben.

Zu konservati­v, überholt? Man kann darin in Zeiten von Identitäts­politik und kulturelle­n Klüften auch einen hoch aktuellen Versuch sehen: uns in einer zersplitte­rten Gesellscha­ft auf das Große zu besinnen, das uns alle verbindet. (gau)

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