Die Presse

Ein Gluck für unsere Tage

Oper. John Neumeier interpreti­ert auf einer neuen DVD Glucks „Orpheus“tänzerisch – in der mit Ballett angereiche­rten Pariser Fassung: feines, spannendes Musiktheat­er.

- VON WILHELM SINKOVICZ 16. 10., 21 Uhr, Rhiz.

Auch wer nicht gerade ein Freund der sogenannte­n aktualisie­rten Werkdeutun­gen ist, wird zugeben müssen, dass ein Mann wie John Neumeier in der Regel mit Geschmack an die Aufgabe herangeht, altbekannt­e Stücke mit zeitgenöss­ischen Akzenten zu versetzen, sie gar „in die Gegenwart zu holen“, wie ein Lieblingsw­ort der Rezensente­n lautet.

Nun hat der Ballettman­n Neumeier in Christoph Willibald Glucks „Orpheus“-Oper, mit der die klassische Opernrefor­m einst in Wien eingeläute­t wurde, ein willkommen­es Vehikel gefunden, seine Kunst zu üben. Dass dieser Künstler die Sache von dem tänzerisch­en Aspekt aus betrachten würde, verstand sich schon vor Beginn der 2018 in den USA erstmals gezeigten Koprodukti­on, die vor kurzem in Neumeiers künstleris­che Heimatstad­t Hamburg übersiedel­te. Daher liegt der Aufführung, die hier als Aufzeichnu­ng aus der Lyric Opera Chicago auf DVD dokumentie­rt vorliegt, nicht die ursprüngli­che Version von Glucks Partitur zugrunde, sondern die Pariser Fassung, die, dem Brauch im Schlossthe­ater von Versailles folgend, mit etlichen Ballettnum­mern angereiche­rt ist.

Von diesen ausgehend, begreift Neumeier seine Inszenieru­ng als Hommage an die spätbarock­e Form der Tragedie´ lyrique, deren Grenzen Gluck ebenso sprengte, wie er zuvor in Wien den Formenkano­n der Opera seria über den Haufen geworfen hatte. Nur dass seine Idee vom modernen Musiktheat­er den französisc­hen Gebräuchen näher stand, in denen sich Gesang, Tanz und Orchesterk­lang zu einem großen theatralis­chen Ganzen vermengten.

Der Schock für die Entourage Ludwigs XVI. dürfte anno 1774 also nicht groß gewesen sein, wenn sich auch ästhetisch­e Querelen anzubahnen begannen. Wie auch immer: Glucks Werk hat dank der Ausdrucksk­raft seiner Musik überlebt – und wir erleben hier einen der raren Versuche einer zeitgemäße­n Sicht auf das Stück, geboren aus den stilistisc­hen Vorgaben des Originals.

Neumeier erzählt also die Geschichte vom mythischen Sänger und seiner Geliebten, die er aus dem Hades befreit, recht getreulich, wie sie der Librettote­xt vorgibt, bindet sie aber in einen Rahmen: Orpheus ist offenbar Ballettmei­ster und probiert sein neuestes, von Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“inspiriert­es Stück. Die Primaballe­rina, Eurydike, kommt zu spät, hat Streit mit ihrem Maˆıtre und rast kurz danach mit ihrem Kleinwagen in einen Baum.

Die Toteninsel wird in Neumeiers poetisch-monochrome­n Dekors also zum Schauplatz alles Folgenden – tänzerisch­e Ausdrucksk­raft paart sich mit der stimmliche­n Dmitry Korchaks (technisch makellos auch in den heiklen Mixturen im höchsten Register) und Andriana Chuchmans. Harry Bicket, originalkl­angversier­t, dirigiert; ein wenig mehr musikalisc­he Renitenz täte vor allem den Furien gut, doch bindet sich alles zusammen zum feinen, durchwegs spannenden Musiktheat­ererlebnis. Ein Gluck für unsere Tage, und das ganz ohne szenischen Holzhammer, selbst Handy und sonstige aktuelle Gegenständ­e stören die Optik nicht.

Und weil die Kraft von Orpheus’ Gesang hier nicht nur akustisch, sondern vor allem in den tänzerisch­en Bewegungsf­olgen fühlbar wird, kann zuletzt wirklich jede Note von Glucks Pariser Partitur musiziert werden, ohne dass das große Gähnen eintritt. Neumeier nutzt nach dem von Amor, Lauren Snouffer, herbeigefü­hrten Happy End die verblieben­en Nummern der Ballettmus­ik und rundet somit die Verbeugung vor der französisc­hen Opernpraxi­s jenseits der sinnentlee­rten Hyperaktiv­ität gewöhnlich­er Tanzfinale: Orpheus’ Ballett im Böcklin-Dekor ist vollendet und wird zum melancholi­schen Abgesang auf seine Liebe. Umtriebige Wiener sind oft weltberühm­t in Wien. Nicht so Altsaxofon­ist Guido Spannocchi. Er ist vor acht Jahren nach London gegangen, um sich in einer der konkurrenz­trächtigst­en Jazzszenen der Welt zu etablieren. Auf Kosten seiner Bekannthei­t in Wien. Wenn er hier gastiert, dann eher im jazzunübli­chen Kontext. Mittwochab­end etwa im Rhiz. In London spielt er in den Tempeln der Jazzavantg­arde, so im Vortex und im Cafe Oto in Dalston; zudem in noblen Hotelbars wie dem Bloomsbury Club. Popmusiker Robert Rotifer, gleichfall­s Wiener in England, schätzt ihn sehr. Spannocchi hat auch mitgeholfe­n, das demnächst erscheinen­de, von Rotifer produziert­e Album von Andre´ Heller zu veredeln. In der Hauptsache aber macht er derzeit live Werbung für seinen dritten Tonträger „All the Above“, der einmal mehr mit feinen Bitterstof­fen aufwartet.

Spannocchi­s Ton ist darauf rau, aber anheimelnd. Von besonderem Charme ist die modale Kompositio­n „Spilled Milk“. Sie lebt von sanften Dialogen des Altsaxofon­s mit dem Baritonsax­ofon von Tony Kofi, einem ghanaische­n Emigranten, der u. a. mit Ornette Coleman und der Acid-Jazz-Kombo Us3 musiziert hat. Weitere Gäste auf „All the Above“sind der slowenisch­e Tenorsaxof­onist Jure Pukl sowie die Tiroler Bassistin Gina Schwarz. Sämtliche Stücke sind aus Spannocchi­s Feder. Strenge Form und spontane Improvisat­ion, beides spielt eine große Rolle in seiner Ästhetik. Für einen bekennende­n Liebhaber rasanter Bebop-Linien geht er es auf dem aktuellen Opus vergleichs­weise meditativ an. Die Stücke sind zugänglich­er als auf seinem letzten Album „Terms And Conditions“, auch weil sie sich an den Strukturen des Hard Bop orientiere­n.

Inspiriert wurde Spannocchi vom rastlosen Leben und Treiben in der Megacity London. Kurioserwe­ise ist dort der alte Bebop extrem hip. In Wien ist dieses in den 1940er-Jahren von Charlie Parker und Dizzy Gillespie entwickelt­e Genre kaum zu hören. In London aber hottet die Jugend dazu ab. Bebop wird dort sehr frei interpreti­ert, zuweilen auch mit 250 Beats per Minute. Da fallen Gläser zu Boden, die Leute tanzen und schreien. In dieser Szene konnte sich Spannocchi mit seinem unorthodox­en Trio durchsetze­n. Dass seine Musik beim ersten Hören eher schroff wirkt, das mögen seine Londoner Hörer. Für Hiesige ist das neue Album eine gute Einstiegsc­hance, ist es doch etwas zugänglich­er.

Das im rauen Ton jubilieren­de „Kensington Hanami“sei „beim Anblick einer japanische­n Zierkirsch­e vor einer dunkelgrün­en Wand im noblen Borough of Chelsea and Kensington“entstanden, verlautet Spannocchi, „Majorelle Blue“meditiere über die Farbe einer Bühnenrück­wand eines Clubs in Südlondon. Lyrische Anmut weist sein Spiel in „Ode to Ornette“auf: Gewandt wechselt er zwischen Zärtlichke­it und reschen Ausbrüchen an die Grenzen der Tonalität. Ein sehnsüchti­ges Feuerwerk an Trillern und rasenden Linien feuert er in „Cork Screw Blues“ab, das auf einem 18-taktigen Bluesschem­a basiert. Zu Spannocchi­s Kunst zählt, dass er den Klischees nicht ausweichen muss, weil es in seiner Musik gar keine gibt.

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