Ein Gluck für unsere Tage
Oper. John Neumeier interpretiert auf einer neuen DVD Glucks „Orpheus“tänzerisch – in der mit Ballett angereicherten Pariser Fassung: feines, spannendes Musiktheater.
Auch wer nicht gerade ein Freund der sogenannten aktualisierten Werkdeutungen ist, wird zugeben müssen, dass ein Mann wie John Neumeier in der Regel mit Geschmack an die Aufgabe herangeht, altbekannte Stücke mit zeitgenössischen Akzenten zu versetzen, sie gar „in die Gegenwart zu holen“, wie ein Lieblingswort der Rezensenten lautet.
Nun hat der Ballettmann Neumeier in Christoph Willibald Glucks „Orpheus“-Oper, mit der die klassische Opernreform einst in Wien eingeläutet wurde, ein willkommenes Vehikel gefunden, seine Kunst zu üben. Dass dieser Künstler die Sache von dem tänzerischen Aspekt aus betrachten würde, verstand sich schon vor Beginn der 2018 in den USA erstmals gezeigten Koproduktion, die vor kurzem in Neumeiers künstlerische Heimatstadt Hamburg übersiedelte. Daher liegt der Aufführung, die hier als Aufzeichnung aus der Lyric Opera Chicago auf DVD dokumentiert vorliegt, nicht die ursprüngliche Version von Glucks Partitur zugrunde, sondern die Pariser Fassung, die, dem Brauch im Schlosstheater von Versailles folgend, mit etlichen Ballettnummern angereichert ist.
Von diesen ausgehend, begreift Neumeier seine Inszenierung als Hommage an die spätbarocke Form der Tragedie´ lyrique, deren Grenzen Gluck ebenso sprengte, wie er zuvor in Wien den Formenkanon der Opera seria über den Haufen geworfen hatte. Nur dass seine Idee vom modernen Musiktheater den französischen Gebräuchen näher stand, in denen sich Gesang, Tanz und Orchesterklang zu einem großen theatralischen Ganzen vermengten.
Der Schock für die Entourage Ludwigs XVI. dürfte anno 1774 also nicht groß gewesen sein, wenn sich auch ästhetische Querelen anzubahnen begannen. Wie auch immer: Glucks Werk hat dank der Ausdruckskraft seiner Musik überlebt – und wir erleben hier einen der raren Versuche einer zeitgemäßen Sicht auf das Stück, geboren aus den stilistischen Vorgaben des Originals.
Neumeier erzählt also die Geschichte vom mythischen Sänger und seiner Geliebten, die er aus dem Hades befreit, recht getreulich, wie sie der Librettotext vorgibt, bindet sie aber in einen Rahmen: Orpheus ist offenbar Ballettmeister und probiert sein neuestes, von Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“inspiriertes Stück. Die Primaballerina, Eurydike, kommt zu spät, hat Streit mit ihrem Maˆıtre und rast kurz danach mit ihrem Kleinwagen in einen Baum.
Die Toteninsel wird in Neumeiers poetisch-monochromen Dekors also zum Schauplatz alles Folgenden – tänzerische Ausdruckskraft paart sich mit der stimmlichen Dmitry Korchaks (technisch makellos auch in den heiklen Mixturen im höchsten Register) und Andriana Chuchmans. Harry Bicket, originalklangversiert, dirigiert; ein wenig mehr musikalische Renitenz täte vor allem den Furien gut, doch bindet sich alles zusammen zum feinen, durchwegs spannenden Musiktheatererlebnis. Ein Gluck für unsere Tage, und das ganz ohne szenischen Holzhammer, selbst Handy und sonstige aktuelle Gegenstände stören die Optik nicht.
Und weil die Kraft von Orpheus’ Gesang hier nicht nur akustisch, sondern vor allem in den tänzerischen Bewegungsfolgen fühlbar wird, kann zuletzt wirklich jede Note von Glucks Pariser Partitur musiziert werden, ohne dass das große Gähnen eintritt. Neumeier nutzt nach dem von Amor, Lauren Snouffer, herbeigeführten Happy End die verbliebenen Nummern der Ballettmusik und rundet somit die Verbeugung vor der französischen Opernpraxis jenseits der sinnentleerten Hyperaktivität gewöhnlicher Tanzfinale: Orpheus’ Ballett im Böcklin-Dekor ist vollendet und wird zum melancholischen Abgesang auf seine Liebe. Umtriebige Wiener sind oft weltberühmt in Wien. Nicht so Altsaxofonist Guido Spannocchi. Er ist vor acht Jahren nach London gegangen, um sich in einer der konkurrenzträchtigsten Jazzszenen der Welt zu etablieren. Auf Kosten seiner Bekanntheit in Wien. Wenn er hier gastiert, dann eher im jazzunüblichen Kontext. Mittwochabend etwa im Rhiz. In London spielt er in den Tempeln der Jazzavantgarde, so im Vortex und im Cafe Oto in Dalston; zudem in noblen Hotelbars wie dem Bloomsbury Club. Popmusiker Robert Rotifer, gleichfalls Wiener in England, schätzt ihn sehr. Spannocchi hat auch mitgeholfen, das demnächst erscheinende, von Rotifer produzierte Album von Andre´ Heller zu veredeln. In der Hauptsache aber macht er derzeit live Werbung für seinen dritten Tonträger „All the Above“, der einmal mehr mit feinen Bitterstoffen aufwartet.
Spannocchis Ton ist darauf rau, aber anheimelnd. Von besonderem Charme ist die modale Komposition „Spilled Milk“. Sie lebt von sanften Dialogen des Altsaxofons mit dem Baritonsaxofon von Tony Kofi, einem ghanaischen Emigranten, der u. a. mit Ornette Coleman und der Acid-Jazz-Kombo Us3 musiziert hat. Weitere Gäste auf „All the Above“sind der slowenische Tenorsaxofonist Jure Pukl sowie die Tiroler Bassistin Gina Schwarz. Sämtliche Stücke sind aus Spannocchis Feder. Strenge Form und spontane Improvisation, beides spielt eine große Rolle in seiner Ästhetik. Für einen bekennenden Liebhaber rasanter Bebop-Linien geht er es auf dem aktuellen Opus vergleichsweise meditativ an. Die Stücke sind zugänglicher als auf seinem letzten Album „Terms And Conditions“, auch weil sie sich an den Strukturen des Hard Bop orientieren.
Inspiriert wurde Spannocchi vom rastlosen Leben und Treiben in der Megacity London. Kurioserweise ist dort der alte Bebop extrem hip. In Wien ist dieses in den 1940er-Jahren von Charlie Parker und Dizzy Gillespie entwickelte Genre kaum zu hören. In London aber hottet die Jugend dazu ab. Bebop wird dort sehr frei interpretiert, zuweilen auch mit 250 Beats per Minute. Da fallen Gläser zu Boden, die Leute tanzen und schreien. In dieser Szene konnte sich Spannocchi mit seinem unorthodoxen Trio durchsetzen. Dass seine Musik beim ersten Hören eher schroff wirkt, das mögen seine Londoner Hörer. Für Hiesige ist das neue Album eine gute Einstiegschance, ist es doch etwas zugänglicher.
Das im rauen Ton jubilierende „Kensington Hanami“sei „beim Anblick einer japanischen Zierkirsche vor einer dunkelgrünen Wand im noblen Borough of Chelsea and Kensington“entstanden, verlautet Spannocchi, „Majorelle Blue“meditiere über die Farbe einer Bühnenrückwand eines Clubs in Südlondon. Lyrische Anmut weist sein Spiel in „Ode to Ornette“auf: Gewandt wechselt er zwischen Zärtlichkeit und reschen Ausbrüchen an die Grenzen der Tonalität. Ein sehnsüchtiges Feuerwerk an Trillern und rasenden Linien feuert er in „Cork Screw Blues“ab, das auf einem 18-taktigen Bluesschema basiert. Zu Spannocchis Kunst zählt, dass er den Klischees nicht ausweichen muss, weil es in seiner Musik gar keine gibt.