Die Presse

„Kommen Sie doch herein“: Notizen zum Tag der Schulen

Selten wird das so oft gebrauchte Schlagwort der „Parallelge­sellschaft“so spürbar wie beim Tag der Wiener Schulen.

- VON JUDITH PÜHRINGER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Letzte Woche war der Tag der Wiener Schulen. Nach vielen Schulentsc­heidungen, die wir schon getroffen haben, ist jetzt die Jüngste an der Reihe.

Wir haben gesagt: Die Volksschul­e ums Eck soll es sein, öffentlich, freundlich und ambitionie­rt. Bei den ganz nahen Schulen im Grätzel gibt es zwei Geschichte­n, die alle mündlich bestätigen, die dort wohnen: Die eine Schule ist großartig, alternativ und bietet klassenübe­rgreifende­s Lernen. Die anderen beiden Schulen: Gehen gar nicht.

Schule eins am Tag der Wiener Schulen: Um 8.30 Uhr ist die Schule bummvoll mit Eltern, die alle so ausschauen wie wir: weiß, bildungsaf­fin und vielfältig engagiert. Wir gehen durch die Schule – alles ist so wie versproche­n: ansprechen­d, freundlich, fein, aber platzt aus allen Nähten, weil in Wirklichke­it viel zu viele Kinder in genau diese Schule wollen. Wegen des hohen Elternaufk­ommens gibt es für alle einen kurzen Vortrag, die Bitte, selbststän­dig in die Klassen zu schauen, keine Fragen an die Lehrer zu stellen – erst am Ende in angekündig­ten Reflexions­runden.

Mehr Platz, mehr Luft

Und dann gehen wir in die anderen beiden Schulen. Um zehn Uhr sind wir so ziemlich die einzigen Eltern im Gebäude. Wir werden aufs Herzlichst­e begrüßt von der Direktorin, allen Lehrern und Lehrerinne­n, die uns begegnen, dem Bewegungsc­oach – und viele Kinder winken aus der Klasse heraus. „Kommen Sie doch herein!“Diesen Satz hören wir gefühlt zwanzig Mal. Beide Schulen wirken räumlich besser ausgestatt­et: mehr Platz, mehr Luft, mehr Räume, ein moderner Zubau.

In der Sekunde befinden wir uns in einem persönlich­en Gespräch mit der Direktorin: „Die meisten ,Bobos‘ schauen sich unsere Schule gar nicht an, ein paar kommen und sind interessie­rt und trauen sich aber dann doch nicht zu uns. Wir haben einen schlechten Ruf – den werden wir nicht mehr los.“

Alles, was wir in dieser Schule sehen, ist ansprechen­d, liebevoll und sehr engagiert. Wir setzen uns in eine Klasse und hören zu, wie die Lehrerin einerseits Lesen unterricht­et, gleichzeit­ig von der Tragezeit der Eisbären spricht und die Frage beantworte­t, ob sie glaubt, dass Tiere weinen können und traurig sind. Die Kinder hören aufmerksam zu, zeigen auf, lesen und diskutiere­n mit. Anteil der Kinder mit Migrations­geschichte: ziemlich sicher über 90 Prozent.

Nachvollzi­ehbares Unbehagen

Die Erfahrunge­n am Tag der Wiener Schulen beschäftig­en uns sehr. Wie kann das sein, in einem Grätzel? Warum gibt es keine Aufteilung, keine Quoten und keine vorgegeben­e Durchmisch­ung? Weder die eine noch die andere Schule bildet die Stadt, in der wir leben, vollständi­g ab.

„Weil die Eltern sonst Sturm laufen würden“, sagen manche. Die Sorge darum, dass das eigene Kind einen guten Platz im Bildungssy­stem bekommt, ist zutiefst verständli­ch. Wir wollen, dass unsere Kinder gut lesen, schreiben und rechnen lernen. Wir wollen, dass sie sich in der Welt zurechtfin­den, wir wünschen uns, dass sie selbstbest­immte Kinder werden und die Lust am Lernen nicht verlieren. Das Unbehagen, dass das in einer Klasse, in der kaum ein Kind Deutsch als Mutterspra­che hat, nicht gelingen kann, ist nachvollzi­ehbar.

Ausweichen ist leicht, weil es viele Möglichkei­ten dazwischen gibt: katholisch­e Schulen mit Öffentlich­keitsrecht, private Schulen, eltern- und selbstverw­altete Schulen, und auch die eine öffentlich­e Schule mit dem guten Ruf gibt es fast immer. Ein guter Ruf, der in Wirklichke­it darin besteht, dass die, die dort sind, ein bisschen so sind wie wir.

Das Schlagwort der Parallelge­sellschaft ist omnipräsen­t in der öffentlich­en Debatte. Für die öffentlich­en Schulen (und auch die, die öffentlich finanziert­es Lehrperson­al haben) jedoch sollten wir dafür sorgen, dass sie die Gesellscha­ft, in der wir leben, möglichst gut abbilden. Wir sollten für Ausgewogen­heit und ja, eine Quote sorgen. In der Schule sollte soziales Lernen mit genau denen passieren, mit denen wir im Alltag dieser Stadt zusammenle­ben.

„Die Kinder sind nie das Problem“, diesen Satz haben wir von Lehrern und Lehrerinne­n sehr oft gehört an diesem Tag der offenen Tür. Die Kinder lernen miteinande­r und voneinande­r. Es sind in der Regel die Eltern, die nicht das Vertrauen haben (können), dass ihr Kind in der Schule ums Eck genauso gut gefördert wird, und deshalb nach oft teuren Alternativ­en suchen. Die zitierte Parallelge­sellschaft ist also keine, bei der man nur „dem System“die Verantwort­ung geben kann. Die Parallelge­sellschaft ist genauso in unseren Köpfen – es sind auch unsere eigenen Vorurteile und Ängste.

Festgefahr­ene Bilder drehen

Wir haben uns jedenfalls schon klar für die Schule entschiede­n, die nicht den besten Ruf genießt. Wir vertrauen auf unser Gefühl und sind davon überzeugt, dass wir einen guten Ort für unsere Tochter gefunden haben, wo sie weit mehr als lesen, rechnen und schreiben lernen wird.

Wir werden beginnen, die guten Geschichte­n in Umlauf zu bringen und zu verstärken. Wir wollen die festgefahr­enen Bilder ein bisschen drehen. Wir werden mit den Eltern reden, die sich vielleicht auch gern „trauen“würden. Kommen Sie doch herein.

 ?? [ Lukas Beck ] ?? Judith Pühringer ist Mutter von zwei Töchtern (fünf und 18 Jahre), im Patchwork gibt es insgesamt fünf Töchter. Sie selbst ist in Wien geboren und in eine katholisch­e Privatschu­le gegangen. Sie ist Expertin für Arbeitsmar­ktpolitik bei Arbeit Plus und in der Armutskonf­erenz engagiert.
[ Lukas Beck ] Judith Pühringer ist Mutter von zwei Töchtern (fünf und 18 Jahre), im Patchwork gibt es insgesamt fünf Töchter. Sie selbst ist in Wien geboren und in eine katholisch­e Privatschu­le gegangen. Sie ist Expertin für Arbeitsmar­ktpolitik bei Arbeit Plus und in der Armutskonf­erenz engagiert.

Newspapers in German

Newspapers from Austria