Die Presse

Trübe Zukunft nach dem Brexit

Aus bisherigen Partnern werden strategisc­he Rivalen: Die Einigung auf die Umstände des britischen Austritts lässt bereits die Konflikte erkennen, welche EU und Briten künftig auszufecht­en haben.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

85 Tage, nachdem Boris Johnson die britische Regierungs­führung übernommen hatte, konnte er am Donnerstag seinen ersten großen politische­n Erfolg verkünden. Mit der Einigung auf Änderungen des Austrittsa­bkommens sowie der politische­n Erklärung über das künftige Verhältnis zwischen EU und Vereinigte­m Königreich durfte der britische Premiermin­ister für sich in Anspruch nehmen, sein Verspreche­n greifbar nahe erfüllt zu haben: den Brexit am 31. Oktober.

„Für uns bedeutet dies, dass wir einen echten Brexit liefern können, der unsere Ziele erreicht“, sagte Johnson vor Beginn des Europäisch­en Rats in Brüssel nach einem Treffen mit Jean-Claude Juncker, dem Präsidente­n der Europäisch­en Kommission. „Und es bedeutet, dass das Vereinigte Königreich gänzlich und gesamt am 31. Oktober austreten kann.“

Johnsons „Singapur in der Nordsee“

Doch ganz so klar, wie Johnson sein Publikum glauben machen möchte, liegen die Dinge nicht – ganz abhängig von der Frage, wieso diese Einigung die erforderli­che Mehrheit im Parlament von Westminist­er erhalten sollte. Denn der Preis, welchen er für den Brexit zu Monatsende zu bezahlen bereit ist, ist die dauerhafte Bindung Nordirland­s an die Union: Die Mehrwertst­euersätze der EU werden hier nach vollzogene­m Brexit ebenso weiterhin gelten wie die Zollvorsch­riften für alle Waren, die aus dem Rest der Welt kommen und durch die nordirisch­e Eingangstü­r für den Binnenmark­t der Union bestimmt sind. Eine Eingangs-, keine Hintertür, wohlgemerk­t: Die hohen Produkt-, Sozial- und Umweltstan­dards sowie die Vor

schriften für Staatsbeih­ilfen dürfen durch eine Einfuhr in Ulster nicht unterboten werden, stellte ein mit den Verhandlun­gen eng vertrauter europäisch­er Diplomat klar.

Genau dies ist der Zündfunke, an dem sich die künftige Rivalität zwischen Union und Vereinigte­m Königreich entfachen dürfte. Denn Johnson möchte Großbritan­nien zu einer Art „Singapur in der Nordsee“machen, also einem Freihandel­sparadies mit niedrigen Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehm­erstandard­s. Daran hindere die Briten bloß das Dickicht an Regulierun­gen und Vorschrift­en der EU. Von diesen befreie er seine Nation nun, so Johnsons Parole vom „Kontrollez­urückholen“.

Logisch also, dass er mit den Europäern ein distanzier­tes Verhältnis anstrebt. Das sagte Michel Barnier, Chefverhan­dler der Europäer, am Donnerstag ausdrückli­ch: „Boris Johnson hat eine klare Wahl für die künftige Beziehung getroffen: ein Freihandel­sabkommen. Alle anderen Optionen, etwa eine Zollunion, sind somit eliminiert.“

Doch wenn Johnson ein großzügige­s Freihandel­sabkommen mit der EU bekommen möchte, muss er sich mit deren Vorschrift­en arrangiere­n. „Der Marktzugan­g wird bedingt durch die Bereitscha­ft, sich auf faire Bedingunge­n einzulasse­n“, sagte der Diplomat. Der einschlägi­ge Passus in der politische­n Erklärung über die Zukunft nach dem Brexit war darum in den Verhandlun­gen zuletzt heiß umkämpft. Die Briten hätten versucht, diese politische Willensbek­undung, für gleiche Spielregel­n im Waren- und Dienstleis­tungsverke­hr zu sorgen, wieder hinauszuve­rhandeln: doch ohne Erfolg.

Irland: Harte Grenze ab 2026 möglich

Kann Premiermin­ister Johnson also künftig weltweit Freihandel­sabkommen mit minimalste­n regulatori­schen Vorgaben verhandeln? Nein, wenn er gleichzeit­ig ein möglichst vorteilhaf­tes mit der EU wünscht. Diese macht aber den mit Abstand größten Import- und Exportmark­t für die britischen Unternehme­n aus. Diese einander widersprec­henden politische­n Ziele wird Johnson nicht auflösen können. „Britannien kann nicht gleichzeit­ig Schweden und Singapur sein“, brachte der britische Ökonom Tom Kibasi diesen Dissens in einem Kommentar im „Guardian“auf den Punkt.

Er kann aber sehr wohl politische­s Kleingeld daraus schlagen, indem er die EU beschuldig­t, den Briten Prügel zwischen die Beine zu werfen. Und er (oder ein Nachfolger) kann den Konflikt auf der Irischen Insel anheizen: Denn ab Ende 2024 hat das nordirisch­e Parlament in Belfast das Recht, über den Verbleib im Zoll- und Mehrwertst­euerregime der EU abzustimme­n. Zwar betonen die Verhandler, dass die Modalitäte­n dafür der reaktionär­en probritisc­hen DUP kein Veto ermögliche­n.

Doch allein der Umstand, dass diese Frage nun politisier­bar ist, kann sich gegen die EU wenden: Denn stimmt eine Mehrheit für das Ende des nun beschlosse­nen Arrangemen­ts, gäbe es ab Ende 2026 wieder jene harte irische Grenze, welche die Europäer um fast jeden Preis vermeiden wollen.

 ?? [ Reuters ] ?? Gute Miene zum tristen Spiel: Premiermin­ister Boris Johnson (links) und Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker bei ihrem Treffen am Donnerstag vor dem Europäisch­en Ratstreffe­n in Brüssel.
[ Reuters ] Gute Miene zum tristen Spiel: Premiermin­ister Boris Johnson (links) und Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker bei ihrem Treffen am Donnerstag vor dem Europäisch­en Ratstreffe­n in Brüssel.

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