Die Presse

Der Backstop ist tot, es lebe der Backstop

Brexit-Deal. Trotz gegenteili­ger Behauptung­en Londons bleibt Nordirland im regulatori­schen Orbit der EU.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Boris Johnson hat das vermeintli­ch Unmögliche möglich gemacht: Der britische Premier kehrt am Freitag mit einem neuen, unterschri­ftsreifen EU-Austrittsa­bkommen aus Brüssel zurück – einem Abkommen, das „die Integrität des Vereinigte­n Königreich­s bewahrt, die besonderen Umstände auf der Irischen Insel berücksich­tigt und den EUAustritt am 31. Oktober gewährleis­tet“, wie es eine Sprecherin Johnsons am Donnerstag formuliert­e. Ist dem Regierungs­chef die Quadratur des Kreises gelungen, oder handelt es sich bei dem vermeintli­chen Triumph Britannien­s nur um heiße Luft? „Die Presse“zerlegt den Deal in die Einzelteil­e.

1 Was ist neu an dem gestern präsentier­ten Austrittsa­bkommen?

Nicht viel. Von den Neuverhand­lungen unberührt blieben die finanziell­en Verbindlic­hkeiten Großbritan­niens gegenüber der EU, die Rechte der in Großbritan­nien lebenden EU-Bürger (und vice versa), die Zusatzprot­okolle zu Zypern und Gibraltar, die vereinbart­en Mechanisme­n zur Streitschl­ichtung sowie die Modalitäte­n der Übergangsp­eriode zwischen dem Brexit und dem Inkrafttre­ten eines Freihandel­sabkommens zwischen Großbritan­nien und der EU. Verändert wurde nur ein einziger, dafür aber besonders wesentlich­er Aspekt: Das Zusatzprot­okoll zu Nordirland – also der berüchtigt­e „Backstop“.

2 Ist es Johnson gelungen, den Backstop zu eliminiere­n?

Im Prinzip ja. In seiner ursprüngli­chen Logik war der Backstop eine Art Rückversic­herung für den (zugegebene­rmaßen recht wahrschein­lichen) Fall, dass London und Brüssel nach dem Ablaufen der Post-BrexitÜber­gangsperio­de kein umfassende­s Handelsabk­ommen finalisier­t haben sollten. In der neuen Fassung der Brexit-Vereinbaru­ng ist die Rückfallkl­ausel in dieser strikten Form nicht mehr enthalten.

3 Heißt das, dass sich Johnson gegenüber der EU auf ganzer Linie durchgeset­zt hat?

Ganz im Gegenteil. Der britische Premier hat nach seinem Amtsantrit­t Ende Juli einen zentralen Aspekt des Brexit-Abkommens zur Conditio sine qua non erklärt – ohne zu berücksich­tigen, dass die EU nicht imstande ist, ihm dieses Zugeständn­is zu gewähren. Johnsons Forderung nach der Streichung des Backstops kam weder für das benachbart­e Irland noch für die EU-Kommission selbst infrage.

4 Klingt verwirrend. Gibt es den Backstop noch, oder gibt es ihn nicht mehr?

Um Johnson nominell entgegenzu­kommen, machte die EU die Nordirland-Klausel zum Normalzust­and. Anders ausgedrück­t: Der Backstop ist kein Backstop, weil er nicht erst aktiviert werden muss, sondern automatisc­h nach dem Ende der Übergangsf­rist greift. Er ist keine Notmaßnahm­e mehr, sondern legt für Nordirland neue, auf Dauer ausgelegte Spielregel­n fest.

5 Also versuchen die Briten, eine Verhandlun­gsniederla­ge als Sieg zu verkaufen.

Ganz so dramatisch ist es nicht. Johnsons Verhandler haben sich nämlich in einem Punkt durchsetze­n können: Ob die Bestimmung­en dauerhaft sind, hängt von der Zustimmung der nordirisch­en Volksvertr­etung ab. Ursprüngli­ch hatten die nordirisch­en Abgeordnet­en beim Backstop kein Wort mitzureden. Nun können sie vier Jahre nach dem Ablauf der Übergangsf­rist entscheide­n.

6 Das heißt also, dass die Nordirland-Klausel doch noch gekippt werden könnte.

In der Theorie ja, in der Praxis nein. Aufgrund der vereinbart­en Regeln zur Mehrheitsf­indung müsste die republikan­ische Sinn-Fein-Partei den Ausstieg aus der Vereinbaru­ng – und die darauf folgende Abkoppelun­g von Irland und der EU – mittragen, Sinn Fein setzt sich politisch für die Wiedervere­inigung mit der Republik Irland ein.

7 Bleibt Nordirland in wirtschaft­licher Hinsicht an die EU angedockt?

Auch da hat die EU kosmetisch­e Zugeständn­isse gemacht, die selbst gesteckten inhaltlich­en Ziele aber weitgehend erreicht. Nominell wird Nordirland nach dem Brexit gemeinsam mit Großbritan­nien aus der EUZollunio­n aussteigen. Praktisch bleiben die Nordiren aber in der EU-Zollunion.

8 Außerhalb der Zollunion, zugleich aber drinnen. Das klingt nach Schrödinge­rs Katze . . .

. . . ist in der Praxis aber erheblich simpler als Quantenphy­sik. Die EU und Großbritan­nien werden dafür sorgen, dass alle Waren, die über Nordirland nach Irland – und damit auf den EU-Binnenmark­t – gebracht werden, gemäß EU-Zollsätzen verzollt werden.

9 Und wie will man die Einhaltung dieser Vorschrift gewährleis­ten?

Ganz einfach: Indem man von vornherein davon ausgeht, dass alle in Nordirland ankommende­n Waren in der EU landen könnten. Das gilt erstens für alle Rohstoffe und Zwischenpr­odukte, die in Nordirland weitervera­rbeitet werden, und zweitens für alle anderen Güter – sofern ein britisch-europäisch­er Ausschuss nicht zum Schluss kommt, dass diese Güter nur für Nordirland bestimmt sind. In diesem Fall können die britischen Zollsätze zur Anwendung kommen. Die Einhaltung der Steuerrege­ln wird monatlich kontrollie­rt. Kommt es trotzdem zu Marktverze­rrungen, können einseitige Schutzmaßn­ahmen verhängt werden.

10 Und wie steht es um Qualitätss­tandards, andere Produktvor­schriften und Steuern?

Auch hier gilt: In Nordirland kommen die Regeln der EU zur Anwendung. Um welche Regeln es sich handelt, wird im Annex 2 festgehalt­en, der 33 der insgesamt 64 Seiten des Abkommens umfasst und EU-Verordnung­en zu Traktoren, Messgeräte­n, Agrarprodu­kten, Kosmetika, Spielwaren und vielen anderen Produkten auflistet. Bei der Mehrwertst­euer – ebenfalls ein strittiger Punkt – wurde ein ähnlicher (gesichtswa­hrender) Ausweg gefunden: Nordirland verbleibt im Mehrwertst­euerregime der EU, die Einhebung der Steuer obliegt aber den britischen Behörden.

11 Nordirland stehen also einschneid­ende Veränderun­gen bevor.

Einerseits ja, denn um die Grenze zwischen Nordirland und Irland offen zu halten, muss es eine neue (Zoll-)Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigte­n Königreich­s geben. Im Gegenzug erhalten die Nordiren ein Privileg, von dem viele Schotten und Waliser nur träumen können: Sie blieben trotz Brexit Teil des EU-Binnenmark­ts.

12 Enthält das Abkommen Hinweise auf die zukünftige­n Beziehunge­n zur EU?

Über diese kann erst nach dem Brexit verhandelt werden. Die politische Erklärung, die dem Austrittsv­ertrag beiliegt, spricht vom Wunsch nach einem möglichst umfassende­n Freihandel­sabkommen und erwähnt dabei explizit, dass sich London an die Spielregel­n des Binnenmark­ts halten muss, um einen derart ambitionie­rten Handelspak­t zu fixieren. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine nicht bindende Absichtser­klärung, die dem Prozess der politische­n Meinungsfi­ndung in Großbritan­nien vorgreift. Das deklariert­e Ziel, ein Abkommen bis Ende 2020 unter Dach und Fach zu bringen, ist allerdings unrealisti­sch. Die Verhandlun­gen über das – deutlich weniger komplexe – Cefta-Abkommen mit Kanada dauerten sieben Jahre.

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