Der Backstop ist tot, es lebe der Backstop
Brexit-Deal. Trotz gegenteiliger Behauptungen Londons bleibt Nordirland im regulatorischen Orbit der EU.
Boris Johnson hat das vermeintlich Unmögliche möglich gemacht: Der britische Premier kehrt am Freitag mit einem neuen, unterschriftsreifen EU-Austrittsabkommen aus Brüssel zurück – einem Abkommen, das „die Integrität des Vereinigten Königreichs bewahrt, die besonderen Umstände auf der Irischen Insel berücksichtigt und den EUAustritt am 31. Oktober gewährleistet“, wie es eine Sprecherin Johnsons am Donnerstag formulierte. Ist dem Regierungschef die Quadratur des Kreises gelungen, oder handelt es sich bei dem vermeintlichen Triumph Britanniens nur um heiße Luft? „Die Presse“zerlegt den Deal in die Einzelteile.
1 Was ist neu an dem gestern präsentierten Austrittsabkommen?
Nicht viel. Von den Neuverhandlungen unberührt blieben die finanziellen Verbindlichkeiten Großbritanniens gegenüber der EU, die Rechte der in Großbritannien lebenden EU-Bürger (und vice versa), die Zusatzprotokolle zu Zypern und Gibraltar, die vereinbarten Mechanismen zur Streitschlichtung sowie die Modalitäten der Übergangsperiode zwischen dem Brexit und dem Inkrafttreten eines Freihandelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU. Verändert wurde nur ein einziger, dafür aber besonders wesentlicher Aspekt: Das Zusatzprotokoll zu Nordirland – also der berüchtigte „Backstop“.
2 Ist es Johnson gelungen, den Backstop zu eliminieren?
Im Prinzip ja. In seiner ursprünglichen Logik war der Backstop eine Art Rückversicherung für den (zugegebenermaßen recht wahrscheinlichen) Fall, dass London und Brüssel nach dem Ablaufen der Post-BrexitÜbergangsperiode kein umfassendes Handelsabkommen finalisiert haben sollten. In der neuen Fassung der Brexit-Vereinbarung ist die Rückfallklausel in dieser strikten Form nicht mehr enthalten.
3 Heißt das, dass sich Johnson gegenüber der EU auf ganzer Linie durchgesetzt hat?
Ganz im Gegenteil. Der britische Premier hat nach seinem Amtsantritt Ende Juli einen zentralen Aspekt des Brexit-Abkommens zur Conditio sine qua non erklärt – ohne zu berücksichtigen, dass die EU nicht imstande ist, ihm dieses Zugeständnis zu gewähren. Johnsons Forderung nach der Streichung des Backstops kam weder für das benachbarte Irland noch für die EU-Kommission selbst infrage.
4 Klingt verwirrend. Gibt es den Backstop noch, oder gibt es ihn nicht mehr?
Um Johnson nominell entgegenzukommen, machte die EU die Nordirland-Klausel zum Normalzustand. Anders ausgedrückt: Der Backstop ist kein Backstop, weil er nicht erst aktiviert werden muss, sondern automatisch nach dem Ende der Übergangsfrist greift. Er ist keine Notmaßnahme mehr, sondern legt für Nordirland neue, auf Dauer ausgelegte Spielregeln fest.
5 Also versuchen die Briten, eine Verhandlungsniederlage als Sieg zu verkaufen.
Ganz so dramatisch ist es nicht. Johnsons Verhandler haben sich nämlich in einem Punkt durchsetzen können: Ob die Bestimmungen dauerhaft sind, hängt von der Zustimmung der nordirischen Volksvertretung ab. Ursprünglich hatten die nordirischen Abgeordneten beim Backstop kein Wort mitzureden. Nun können sie vier Jahre nach dem Ablauf der Übergangsfrist entscheiden.
6 Das heißt also, dass die Nordirland-Klausel doch noch gekippt werden könnte.
In der Theorie ja, in der Praxis nein. Aufgrund der vereinbarten Regeln zur Mehrheitsfindung müsste die republikanische Sinn-Fein-Partei den Ausstieg aus der Vereinbarung – und die darauf folgende Abkoppelung von Irland und der EU – mittragen, Sinn Fein setzt sich politisch für die Wiedervereinigung mit der Republik Irland ein.
7 Bleibt Nordirland in wirtschaftlicher Hinsicht an die EU angedockt?
Auch da hat die EU kosmetische Zugeständnisse gemacht, die selbst gesteckten inhaltlichen Ziele aber weitgehend erreicht. Nominell wird Nordirland nach dem Brexit gemeinsam mit Großbritannien aus der EUZollunion aussteigen. Praktisch bleiben die Nordiren aber in der EU-Zollunion.
8 Außerhalb der Zollunion, zugleich aber drinnen. Das klingt nach Schrödingers Katze . . .
. . . ist in der Praxis aber erheblich simpler als Quantenphysik. Die EU und Großbritannien werden dafür sorgen, dass alle Waren, die über Nordirland nach Irland – und damit auf den EU-Binnenmarkt – gebracht werden, gemäß EU-Zollsätzen verzollt werden.
9 Und wie will man die Einhaltung dieser Vorschrift gewährleisten?
Ganz einfach: Indem man von vornherein davon ausgeht, dass alle in Nordirland ankommenden Waren in der EU landen könnten. Das gilt erstens für alle Rohstoffe und Zwischenprodukte, die in Nordirland weiterverarbeitet werden, und zweitens für alle anderen Güter – sofern ein britisch-europäischer Ausschuss nicht zum Schluss kommt, dass diese Güter nur für Nordirland bestimmt sind. In diesem Fall können die britischen Zollsätze zur Anwendung kommen. Die Einhaltung der Steuerregeln wird monatlich kontrolliert. Kommt es trotzdem zu Marktverzerrungen, können einseitige Schutzmaßnahmen verhängt werden.
10 Und wie steht es um Qualitätsstandards, andere Produktvorschriften und Steuern?
Auch hier gilt: In Nordirland kommen die Regeln der EU zur Anwendung. Um welche Regeln es sich handelt, wird im Annex 2 festgehalten, der 33 der insgesamt 64 Seiten des Abkommens umfasst und EU-Verordnungen zu Traktoren, Messgeräten, Agrarprodukten, Kosmetika, Spielwaren und vielen anderen Produkten auflistet. Bei der Mehrwertsteuer – ebenfalls ein strittiger Punkt – wurde ein ähnlicher (gesichtswahrender) Ausweg gefunden: Nordirland verbleibt im Mehrwertsteuerregime der EU, die Einhebung der Steuer obliegt aber den britischen Behörden.
11 Nordirland stehen also einschneidende Veränderungen bevor.
Einerseits ja, denn um die Grenze zwischen Nordirland und Irland offen zu halten, muss es eine neue (Zoll-)Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs geben. Im Gegenzug erhalten die Nordiren ein Privileg, von dem viele Schotten und Waliser nur träumen können: Sie blieben trotz Brexit Teil des EU-Binnenmarkts.
12 Enthält das Abkommen Hinweise auf die zukünftigen Beziehungen zur EU?
Über diese kann erst nach dem Brexit verhandelt werden. Die politische Erklärung, die dem Austrittsvertrag beiliegt, spricht vom Wunsch nach einem möglichst umfassenden Freihandelsabkommen und erwähnt dabei explizit, dass sich London an die Spielregeln des Binnenmarkts halten muss, um einen derart ambitionierten Handelspakt zu fixieren. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine nicht bindende Absichtserklärung, die dem Prozess der politischen Meinungsfindung in Großbritannien vorgreift. Das deklarierte Ziel, ein Abkommen bis Ende 2020 unter Dach und Fach zu bringen, ist allerdings unrealistisch. Die Verhandlungen über das – deutlich weniger komplexe – Cefta-Abkommen mit Kanada dauerten sieben Jahre.