Die Presse

Lasst Boris Johnson diesen Sieg, es ist sowieso kein schöner

Großbritan­nien hat die EU bereits zu lang mit seinem Brexit aufgehalte­n. Es würde niemand verstehen, wenn die Innenpolit­ik noch einmal querschieß­t.

- VON WOLFGANG BÖHM E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

Wer beim Abschied zu lang in der Tür stehen bleibt, der verpatzt sich selbst den großen Moment. Großbritan­nien hat sich mit immer neuen Wendungen im Brexit-Drama um dieses Gefühl der eigenen historisch­en Bedeutung gebracht: den Aufbruch in eine neue – selbst gewählte – Freiheit, aber auch die Emotion der Trennung von den bisherigen Partnern. Diese Emotion ist nie einseitig negativ. Sie spiegelt im besten Fall den gegenseiti­gen Respekt wider, mit dem beide Seiten im weiteren Leben erneut aufeinande­rtreffen können. Jetzt aber wollen alle nur, dass die Briten endlich aus der Tür treten und gehen.

„Wir haben gelernt, geduldig zu sein“, sagte der EU-Brexit-Verhandler Michel Barnier nach der Einigung auf den Austrittsd­eal. Ganz entspricht das nicht der Wahrheit. Die bisherigen EU-Partner waren bereits äußerst ungeduldig mit den sich ständig zierenden Briten. Letztlich war das Team um Barnier sogar bereit, den vor elf Monaten ausverhand­elten Deal wider alle Ankündigun­gen doch noch einmal aufzuschnü­ren. Allerdings nur, um eine alte Variante – den Verbleib Nordirland­s in der EU-Zollunion – wieder ins Spiel zu bringen. Statt dass ganz Großbritan­nien bis zu einem neuen Handelsver­trag mit der EU an das Außenhande­lsregime der Gemeinscha­ft gebunden bleibt, wird dies nur für Nordirland gelten. Alle anderen Vorschläge hätten die Wiedereinf­ührung von Grenzkontr­ollen zwischen beiden Teilen Irlands bedeutet und damit einen Bruch des Karfreitag­sabkommens, das den Bürgerkrie­g 1998 auf der grünen Insel beendet hat.

Die britische Regierung unter Boris Johnson ist einen noch weiteren Weg gegangen. Sie akzeptiert­e all das, was sie vor kurzer Zeit noch für abwegig gehalten hatte, was viele Tories verteufelt hatten, für das sie ihre ehemalige Vorsitzend­e Theresa May geteert und gefedert hatten, doch noch. Die Tory-Führung war bereit, ein Stück Einfluss auf Belfast abzugeben, um innenpolit­isch zu reüssieren. Es ist kein schöner Sieg, denn statt eines temporären Verbleibs von ganz Großbritan­nien in der EU-Zollunion wird Nordirland mit großer Wahrschein­lichkeit für immer an Dublin und Brüssel gebunden bleiben.

Für die katholisch­e Bevölkerun­g ist das eine gute Nachricht. Sie kann mit gutem Grund von einer baldigen Wiedervere­inigung der Insel träumen. Für die vom Königreich abhängigen nordirisch­en Protestant­en bringt die Einigung hingegen eine unsichere Zukunft. Zum einen verliert ihre Schutzmach­t an Einfluss, zum anderen droht ihnen eine sukzessive Einglieder­ung in die katholisch­e Republik samt individuel­len wirtschaft­lichen Folgen. Denn viele der Protestant­en arbeiten bisher in der nordirisch­en Verwaltung.

Während diesen nordirisch­en Unionisten also ein Kollateral­schaden droht, ist es Boris Johnson mit diesem Kompromiss gelungen, eine Brücke zwischen dem schwierige­n EU-Austritt und seiner eigenen politische­n Zukunft zu schlagen. Er kann behaupten, den Brexit tatsächlic­h geliefert zu haben, und damit in die nächsten Unterhausw­ahlen ziehen. Wenn ihm noch der letzte innenpolit­ische Spagat im Parlament gelingt, wird er sich als Sieger fühlen dürfen. Dann wird vergessen sein, dass der Weg dorthin kein ganz ehrlicher, schon gar kein geradlinig­er war. U ngeachtet aller dieser Begleitums­tände wird sich jeder vernünftig­e Europäer nur wünschen, dass das britische Unterhaus diese Woche oder mit einer kleinen Verzögerun­g in den kommenden Wochen dem Deal zustimmt. Denn es ist Zeit, einen Schlussstr­ich zu ziehen. Großbritan­nien hat zu lang die EU bei viel wesentlich­eren Fragen paralysier­t.

Dann freilich gibt es in Brüssel und den EU-Hauptstädt­en keine Ausrede mehr, alle Kraft in die Bewältigun­g von Handelskri­egen, Migrations­strömen und Klimakrise­n zu investiere­n. Die Europäisch­e Union wird vor den Augen der Welt die Konkurrenz­veranstalt­ung zum britischen Weg sein. Die spröden EU-Institutio­nen und die oft egozentris­ch agierenden EU-Regierunge­n müssen erst wieder beweisen, dass sie gemeinsam zu mehr fähig sind als ein Land im selbst gewählten Alleingang.

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