Auf der grünen Wahlkampf-Welle
Schweiz. Bei der Parlamentswahl dürften die Grünen deutlich zulegen, rechtsbürgerliche Parteien hingegen Stimmen einbüßen. Auf Regierungsebene wird sich trotzdem nichts ändern.
Parlamentswahlen sind in der Schweiz eine unaufgeregte Sache. Das stabile Konkordanzsystem lässt wenig Raum für Bewegung und Machtkonzentration. Die Parteien haben kleinere Budgets als in den Nachbarländern. Vielleicht favorisieren Medien auch deshalb exotische Wahlthemen wie etwa Kuhhörner – ob Kühen Hörner aus Sicherheitsgründen abgesägt werden sollen. Solche Debatten sind spektakulärer als der politische Alltag. Doch heuer ist alles anders: Die Klimapolitik bewegt die Bevölkerung im Alpenland enorm. Sie könnte beim Urnengang am Sonntag einen historischen Linksrutsch auslösen.
Die Grünen (GP) und die Grünliberalen (GLP) profitieren von der „Klimawelle“am stärksten. Sie überzeugen vor allem junge Wähler. Dass diese Parteien sich für die Geschlechtergleichstellung einsetzen, macht sie für Frauen attraktiv. Umfragen zufolge können die Grünen mit zehn Prozent (plus 3,5 Prozent) und die Grünliberalen mit sieben Prozent (plus drei Prozent) rechnen.
Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die mit 26 bis 27 Prozent immer noch stärkste Kraft bleiben, aber Sitze verlieren dürfte, versucht mit einer klaren Gegenposition zu punkten: Sie spricht von „Klimahysterie“, die von den linken Kräften missbraucht werde, um einen Machtwechsel zu forcieren. Klimapolitik war nie ein Thema für die wählerstärkste Parlamentspartei. Doch ihre Dauerbrenner Zuwanderung, Ausverkauf der Souveränität beim EU-Rahmenvertrag und Sicherheit bringen kaum noch Stimmen.
Allerdings kann die Partei auf ihre Stammwähler zählen: SVPWähler geben zwar nicht immer ihre Stimme ab, bleiben aber der Partei treu und wechseln nicht zur Konkurrenz. Ob die SVP beim Klima bewusst auf die Gegenposition setzt oder es einfach unterschätzt hat, ist unklar. Die extreme Haltung hat ihr jedenfalls selbst vom konservativen Bauernverband Kritik eingebracht.
Die Sozialdemokraten, mit rund 18 Prozent in Umfragen die zweitstärkste Partei, versuchen indes auch mit dem Klimathema zu punkten und sprechen von der „größten Bedrohung der heutigen Zeit“. Sie versprechen, den ökologischen Umbau und eine aktive Klimapolitik mit zukunftsträchtigen Technologien und neuen Arbeitsplätzen zu verbinden.
Was es bedeutet, wenn man nur halbherzig auf den Klimazug aufspringt, konnte man bei den Liberalen sehen: Eine rechtsliberale FDP-Minderheit wollte sich nicht mit der neuen Klimaeuphorie in den eigenen Reihen anfreunden. Dieser interne Streit hat die FDP (Umfragen: 15 Prozent) geschwächt, wovon nun die SVP profitieren könnte. Die christdemokratische Volkspartei (CVP), die Demoskopen bei zehn Prozent sehen, versteht sich als große Zentrumspartei. Gesundheitskosten, Reform der Sozialwerke und eine nachhaltige Wirtschaft bleiben ihre Schlüsselthemen.
Das Gesundheitswesen ist das zweite große Thema im Wahlkampf. Wahlentscheidend werden die Krankenkassenprämien aber nicht sein, sagt der Politologe und Wahlforscher Michael Hermann. „Sie sind ein Dauerthema, das nicht automatisch zu einer politischen Haltung führt. Hingegen ist das Klima ein neues Thema und in der Wahrnehmung der Bevölkerung so wichtig geworden, dass man bei der Wahl unmittelbar ein Zeichen setzen kann.“
Das Schweizer KonkordanzPrinzip sieht vor, dass alle wichtigen politischen Richtungen in den Regierungsorganen vertreten sind. Im Nationalrat, der großen Kammer, wird sich an der Führungsrolle der SVP wohl wenig ändern. An zweiter Stelle werden vermutlich die Sozialdemokraten bleiben.
Die Gretchenfrage ist aber, ob die grüne Welle stark genug ist, die CVP zum ersten Mal zu überholen. Das wäre für die Schweiz, wo die Zusammensetzung des Nationalrats seit 100 Jahren großteils gleich geblieben ist, eine historische Wende. In der kleinen Kammer, der traditionell bürgerlich geprägten Kantonsvertretung, ist hinge
wird in der Schweiz ein neues Parlament gewählt. Wahlberechtigt sind gut fünf Millionen Schweizer, doch nicht alle dürften von diesem Recht Gebrauch machen: Bei den vergangenen Nationalratswahlen lag die Wahlbeteiligung nur bei 48 Prozent. Wahllokale schließen bereits am Mittag. gen mit wenig Bewegung zu rechnen. Die CVP ist dort seit jeher stark etabliert. Aber die Chancen stehen gut, dass der Ständerat weiblicher wird. Denn die etablierten Parteien schicken vermehrt Kandidatinnen ins Rennen – im Vergleich zu 2015 sind es heute doppelt so viele.
Die Frauenfrage ist in der Schweiz dieses Jahr besonders en vogue. Bisher ist nur knapp ein Drittel der Sitze im Schweizer Parlament mit Frauen besetzt. Am Sonntag wird sich weisen, wie nachhaltig sich der diesjährige Frauenstreik mit einer halben Million Beteiligten auf das Ergebnis auswirkt. Bewegungen wie „Helvetia ruft“engagieren sich denn auch dafür, ausschließlich Frauen zu wählen.
Ob es auf Regierungsebene im Bundesrat im Dezember 2019 auch zu einer Veränderung kommt, bleibt offen: Je nachdem, wie hoch die grüne Welle wird, könnte der Druck auf die politische Mitte so stark werden, dass einer der sieben Sitze im Bundesrat an die Grünen gehen müsste. So sähe es die sogenannte Zauberformel, der Verteilschlüssel für die Sitze im Bundesrat, theoretisch vor. Wahlforscher Hermann hält dies „für unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen“.