Der Sonnyboy, der zum „Normalo“mutierte
Kanada. Bei der Parlamentswahl am Montag kämpft Justin Trudeau um seine Wiederwahl. Alles deutet auf ein knappes Rennen zwischen Liberalen und Konservativen.
Die orangefarbenen Kürbisse auf der Farm von Ron und Susan Miller in Manotick nahe der Hauptstadt Ottawa leuchten im Sonnenschein. Gerade ist der Wahlkampfbus von Justin Trudeau vorgefahren, auf dem zweisprachig der Schriftzug prangt: „Choose forward/Choisir d´avancer“– was so viel heißt wie „Blickt nach vorn, „Wählt die Zukunft, wählt Fortschritt“. Der Premier hat seinen fünfjährigen Sohn Hadrien an der Hand und spaziert durch die Kürbisreihen.
Der Umgang ist locker und ungezwungen, und der liberale Regierungschef mit dem jugendlichen Look fühlt sich sichtlich wohl. Doch es ist ein harter Wahlkampf für den 47-Jährigen nach dem anfänglichen Honeymoon seiner Amtszeit. Er hatte sich im Sommer aus dem Umfragetief des Frühjahrs herausgearbeitet, aber dann brachte die Veröffentlichung eines Fotos aus dem Jahr 2001, das ihn mit dunkel gefärbtem Gesicht und Turban bei einem Schulfest zeigt, seine Kampagne ins Wanken. Das Foto fügte seinem Image als Repräsentant einer multikulturellen Gesellschaft Schaden zu. Trudeau hat sich dafür mehrmals entschuldigt, er gestand unsensibles Verhalten ein.
Weder Trudeau noch sein konservativer Herausforderer Andrew Scheer genießen bei den Kanadiern große Popularität. Das Meinungsforschungsinstitut Nanos Research sieht Liberale und Konservative bei jeweils 32 bis 33 Prozent. Es sei „eng wie eine Messerstecherei in einer Telefonzelle“, meint Institutschef Nik Nanos.
Im kanadischen Wahlsystem ist der Stimmenanteil aber nicht ausschlaggebend. Es kommt darauf an, wer die meisten der 338 Wahlkreise gewinnt. Lang sah es so aus, als würden die Liberalen in den Kernprovinzen Ontario und Quebec,´ wo die meisten Sitze vergeben werden, klar vorn liegen. Jüngste Umfragen aber signalisieren, dass die sozialdemokratische NDP von Jagmeet Singh im linksliberalen, sozialdemokratischen und grünen Spektrum aufgeholt hat. In Quebec´ macht zudem der wiedererstarkte separatistische Bloc Queb´ecois´ den Liberalen zu schaffen. Lachender Dritter wäre der 40-jährige Scheer. Die stärkste Partei bildet traditionell die Regierung, selbst wenn es eine Minderheitsregierung ist. Koalitionen sind Kanada fremd.
Die Wirtschaftsdaten müssten Trudeau einen unbeschwerten Wahlkampf sichern und seine Wiederwahl garantieren. Die Arbeitslosigkeit – bei Amtsantritt bei sieben Prozent – ist auf 5,5 Prozent gesunken; es wurden knapp über eine Million Arbeitsplätze geschaffen. Trotz der Unwägbarkeiten um Donald Trump gelang Trudeau eine Neuauflage des Freihandelsabkommens Nafta mit den USA. Auch das Handelsabkommen Ceta mit der EU ist vorläufig in Kraft. Er hat das Kindergeld angehoben und die Steuern für die Mittelschicht gesenkt.
Omnipräsentes Thema ist der Umweltschutz. Unentwegt attackieren die Konservativen die zur Senkung der Treibhausgasemissionen eingeführte „Kohlenstoffabgabe“, die sie als „arbeitsplatzvernichtende CO2-Steuer“bezeichnen. Scheer verspricht die sofortige Abschaffung der CO2-Abgabe. Trudeau kontert: Kanada habe unter seiner Führung erstmals einen Plan zur Reduzierung der klimaschädlichen Emissionen. Attackiert wird der Premier auch von den Grünen und der sozialdemokratischen NDP: Für sie hat Trudeau nicht genug im Klimaschutz gemacht und durch Entscheidungen zugunsten einer Pipeline Kredit verspielt.
Trudeau hat sich indessen angreifbar gemacht. Er hat einige wichtige Wahlversprechen gebrochen. So blieb er die versprochene Reform des Wahlrechts schuldig, und er hat das Haushaltsdefizit nicht eingedämmt. Noch mehr hat Trudeau unter der sogenannten SNC-Lavalin-Affäre gelitten. Er soll versucht haben, auf ein Strafverfahren gegen den Baukonzern Einfluss genommen zu haben. Im Zug einer Regierungskrise traten mit Jody Wilson-Raybould und Jane Philpott zwei prominente Kabinettsmitglieder zurück. Der Rücktritt der beiden Ministerinnen kratzte an Trudeaus Image als Feminist.
Der Aufgeregtheit seiner Kontrahenten setzt Trudeau Gelassenheit entgegen. Attacken Scheers in einer TV-Debatte, er sei ein „Schwindler und Betrüger“, ließ Trudeau zur allgemeinen Verwunderung ins Leere laufen. Dabei ist auch Scheers Glaubwürdigkeit ramponiert. Erst kürzlich hat er offenbart, dass er auch die US-Staatsbürgerschaft hat.
Trudeau hatte 2015 die Wahl mit teils unkonventionellen Ideen gewonnen – mit einer neuen Haushalts- und Wirtschaftspolitik, der Legalisierung von Marihuana, der paritätischen Besetzung der Regierung mit Männern und Frauen und der Verbesserung des Verhältnisses zu den indigenen Völkern. Hinzu kamen die von ihm verkörperten „sunny ways“. Für viele Kanadier – und das Ausland – galt er als der liberale Sonnyboy. Dieses Image ist verblasst. Er ist ein „normaler“Politiker geworden, der polarisiert.
Die Stimme der jungen Frau, die mit ihrem Baby zu dem Auftritt Trudeaus auf der Miller-Farm in Manotick kam, ist ihm indes sicher. „Ich stimme seiner Umweltpolitik zu, und das Kindergeld hilft Familien.“Auch Barack Obama sprach sich für die progressive Politik Trudeaus aus – doch der frühere USPräsident hat in Kanada kein Stimmrecht.